Ausländerrecht: Reichweite des Abschiebungsverbotes für kurdische Volksangehörige
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Ausländerrecht
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von: Helmer Tieben

Verwaltungsgericht Karlsruhe, 20.07.2017, Az.: A 10 K 3981/16

§ 60 Abs.1 AufenthG legt fest, dass ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.

Ausweisungsgründe

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.

Absatz 1 findet jedoch keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann ferner abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

In diesen Fällen kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden.

Das nachstehende Urteil untersucht die Frage, ob eine asylrechtlich relevante Verfolgung in der Türkei für einen kurdischen Volksangehörigen droht, der einen Asylantrag in Deutschland gestellt hat, Jahrzehnte lang in der Bundesrepublik lebte und hier an Demonstrationen zur Unterstützung kurdischer Belange teilnahm, sich ansonsten aber nicht politisch betätigte. Dies ist laut der Entscheidung generell nicht der Fall, kann aber im Einzelfall wegen exponierter exilpolitischer Betätigung anders zu bewerten sein.

Sachverhalt des gerichtlichen Verfahrens:

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und kurdischer Volkszugehörigkeit. Er wurde in der Türkei geboren und verbrachte dort die ersten elf Jahre seines Lebens. Seine Eltern wurden beide nach Einreise in das Bundesgebiet als politische Flüchtlinge anerkannt.

Der Kläger und seine Geschwister wurden zunächst in der Türkei von einer Großmutter versorgt. 1998 zogen sie zu den Eltern in das Bundesgebiet nach. Mittlerweile sind die Eltern sowie mindestens zwei Schwestern deutsche Staatsbürger. 2005 wurde dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis erteilt.

Türkischer Kläger wurde in der BRD immer wieder straffällig

Während seines Aufenthalts im Bundesgebiet wurde der Kläger wiederholt straffällig. Es erfolgten rechtskräftige Verurteilungen wegen gemeinschaftlichen versuchten Mords in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung, vorsätzlichen Körperverletzungen, gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung in 5 Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz einer Kurzwaffe und von Munition sowie unerlaubtem  Besitz von Betäubungsmitteln.

Das Gericht legte der Verurteilung  wegen gemeinschaftlichen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung ausweislich der Urteilsgrunde ein politisches Motiv zu Grunde. Die vier Angeklagten hatten in der Nacht zum Newroz-Fest am  21.03.2007 ein politisches Fanal für den Kampf von Kurden in der Türkei setzen wollen. Dazu warfen sie insgesamt sechs Molotowcocktails auf das Vereinsgebäude des türkischen „Idealisten“- Vereins in Göppingen, welches, wie die Angeklagten wussten, bewohnt war. Das Gericht führte im Urteil aus, der Kläger habe sich mit dem Kampf bestimmter extremistischer kurdischer Kreise gegen die türkische Regierung identifiziert. Als Vorbild dieser politischen Kreise habe der in der Türkei inhaftierte frühere Vorsitzende der PKK Öcalan fungiert. Zu diesem Schluss kam das Gericht auch, da bei einer Hausdurchsuchung beim Kläger 19 Exemplare der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Ciwanen Azad“ der Organisation „Komalen Ciwan“, einer kurdischen Jugendorganisation, welche im März 2007 auf ihrer Internetseite zu „effektiven und gewalttätigen Aktionen“ insbesondere anlässlich des Newroz-Festes aufgerufen habe, gefunden worden seien. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger die Zeitschrift habe weiterverbreiten wollen. Auch die ungewöhnliche Namenswahl des von den Angeklagten wieder gegründeten Fußballvereins „Halepce“ lasse sich unschwer mit politischem Bewusstsein und Identifizierung mit Märtyrern für die kurdische Sache in Übereinstimmung bringen. Die Angeklagten hätten ihren Verein nach dem Ort eines Massenmordes an Kurden benannt.

Der Verurteilungen wegen vorsätzlicher Körperverletzung sowie der weiteren Verurteilung wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung wurden  zwar keine politischen Motive zu Gunde gelegt, jedoch kam in beiden Urteilsbegründungen die gewalttätige Neigung des Klägers zum Ausdruck.

Kläger konsumierte ebenfalls Heroin und Kokain

Während des Strafvollzuges begann der Kläger 2010 Drogen zu konsumieren. In der Folgezeit konsumierte er regelmäßig Heroin und Kokain.

Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Kläger mit Verfügung vom 28.05.2015 aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat an, und befristete die Wirkung der Ausweisung auf neun Jahre, jene der Abschiebung auf zwei Jahre nach erfolgter Abschiebung. Dabei führte die Behörde aus, dass auf Grund des teilweise politisch motivierten Brandanschlages nicht zu befürchten sei, dass dem Kläger in der Türkei staatliche Misshandlung und Folter drohen würden, denn die Tat sei vor mehr als acht Jahren begangen worden. Auch habe der Kläger keine Bedenken diesbezüglich gehabt, als er sich wegen der Passausstellung eines türkischen Nationalpasses an das türkische Generalkonsulat wendete.

Ausländerbehörde versuchte ihn abzuschieben, dagegen reichte er Klage ein

Der Kläger erhob gegen die Ausweisungsverfügung Klage. Das Verwaltungsgericht Stuttgart wies die Klage mit Urteil vom 15.03.2016 ab (11 K 3111/15), da es keine Hindernisse habe feststellen können, die zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung in die Türkei geführt hätten.

Der Kläger beantragte beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart mit der Begründung, dass der politisch motivierte Brandanschlag der Abschiebung des Klägers entgegenstünde, da der Kläger in Gefahr schwebe, bei seiner Rückkehr in die Türkei misshandelt zu werden. Der Kläger würde von den türkischen Behörden als potentiellen Unterstützer der PKK angesehen werden.

Der Verwaltungsgerichtshof lehnte Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart mit Beschluss vom 09.08.2016 ab (11 S 722/16).

Es lägen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils vor. Zudem wertete der Verwaltungsgerichtshof ebenso wie die Beklagte das Vorbringen des Klägers bezüglich eine ihm drohende Verfolgung durch die türkischen Sicherheitskräfte wegen der Verurteilung vom 12.09.2007(wg Brandstiftung)  als Asylgesuch dessen sachliche Prüfung der Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge unterlägen.

Gericht bestätigte Entscheidung, Kläger stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar

Der Kläger stelle aufgrund seines persönlichen Verhaltens eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Seine gesamte Biografie sei etwa seit dem Jahre 2004 durch eine Vielzahl von Gewaltdelikten schwerer bis schwerster Art geprägt, ohne dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats auch nur ein Ansatz für eine eingetretene tiefgreifende und grundsätzliche Verhaltensänderung erkennbar geworden sei.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge leitete daraufhin ein Asylverfahren ein. In der persönlichen Anhörung des Klägers am 28.06.2016 gab er an, einen Asylantrag gestellt zu haben, da er in Deutschland wegen „politischen Sachen“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sei. Der Verein in dem er aktiv gewesen sei, habe mit der PKK sympathisiert. Auch habe er an von dem Verein organisierten Demonstrationen  gegen die türkische Politik und gegen den islamischen Staat teilgenommen. Zudem teilte er mit, dass Soldaten bei seiner Tante aus Nusaybin gewesen seien, die nach ihm gefragt und die Tante einige Stunden verhört hätten. Man habe auch einen Brief bei der Tante gefunden mit einem Bild des Klägers, auf dem dieser mit einer PKK Fahne bei der friedlichen Teilnahme an einer Demonstration zu sehen sei. Der Kläger befürchte im Falle seiner Rückkehr in die Türkei, ins Gefängnis zu kommen oder gefoltert zu werden, damit er irgendwelche Namen sage. Diese Annahme stützt er auch darauf, dass die Soldaten gegenüber der Tante erklärten, dass man die Tante und die ganze Familie nach seiner Rückkehr mit beschuldigen werde. Weitere in der Türkei lebende Verwandte seien aber nicht befragt worden. Er gab an, dass ihm das türkische Konsulat in Stuttgart etwa im April 2011 ein Reisepass ausgestellt habe.

Daraufhin lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Asylanerkennung mit Bescheid vom 08.08.2016 als offensichtlich unbegründet ab. Der Antrag auf subsidiären Schutz wurde abgelehnt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Zusätzlich wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und ihm angedroht bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist, werde er in die Türkei oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei abgeschoben. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf neun Jahre ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Zur Begründung wurde ausgeführt, es lasse sich keine ernsthafte politische Einstellung und Motivation des Klägers im Zusammenhang mit seinen Straftaten feststellen. Der Kläger habe keine ernsthafte politische Position bezogen, sondern sich ausschließlich als äußerst unbedarfter Mitläufer bei seinen einschlägigen Straftaten betätigt. Es stünde nicht zu befürchten, dass selbst wenn man unterstelle, dass der türkische Staat im Rahmen des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen Kenntnis der einzelnen Straftaten des Klägers erhalten habe, mehr als  die strafrechtlichen Verurteilungen und nachfolgenden Maßnahmen, die in dem Strafregister eingetragen worden seien, an den Vertragsstaat übermittelt würden. Eine möglicherweise politisch motivierte Straftat würde nicht ohne weiteres erkannt werden. Auch die große Anzahl an ausgetauschten Strafregisterauszügen würde dagegen sprechen, dass die Türkei überhaupt in allen Details über die Straftaten des Klägers informiert sei. Herausgehobene politische Aktivitäten, welche für irgendeine eigene politische Überzeugung stünden, seien durch die behaupteten Teilnahmen an Demonstrationen nicht festzustellen

Wegen der mehrfachen strafrechtlichen Verurteilungen sei die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet gerechtfertigt, da der Kläger eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeute.

Auch die Befristung des Wiedereinreiseverbots sei mit neun Jahren angemessen

Der Kläger habe ausreichend Möglichkeit zur Antragsstellung gehabt um eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden. Wegen der strafrechtlichen Verurteilungen sei die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf neun Jahre angemessen. Im Lichte seines Gewaltpotentials sei trotz des langjährigen Aufenthalts in Deutschland sowie des Aufenthalts seiner Familie im Bundesgebiet, nicht anders zu entscheiden gewesen, da das öffentliche Interesse an einer Vermeidung weiterer schwerer Straftaten in der Bundesrepublik sein privates Interesse überlagere.

Der Kläger hat am 16.08.2016 Klage erhoben und einen Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt mit der Begründung es bestehe die konkrete Gefahr, dass er in der Türkei misshandelt werde. Durch den  den praktizierten Strafnachrichtenaustausch und die Tätigkeit des türkischen Konsulats und des türkischen Geheimdienstes sei davon auszugehen, dass den türkischen Behörden seine Verurteilung wegen versuchten Mordes bekannt geworden sei. Er bezweifelt zudem die Zuständigkeit des Bundesamtes für den Erlass der Abschiebungsandrohung und der Ausreiseaufforderung. Der Kläger gab an seit 2005 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis zu sein, weshalb die Zuständigkeit daher bei den Ausländerbehörden beziehungsweise im Rahmen der Ausweisung beim Regierungspräsidium liege.

Der Kläger beantragte, die Beklagte unter Aufhebung der insoweit entgegenstehenden Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.08.2016 zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf Null zu befristen.

Die Beklagte beantragte die Klageabweisung und führte dazu aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei nicht zu befürchten habe in asylerheblicher Weise verfolgt zu werden. Das Vorbringen des Klägers genüge nicht um eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dessen annehmen zu können.

Der Strafnachrichtenaustausch bürge keine Gefahr einer Feststellung von politischen Aktivitäten zumal nicht davon auszugehen sei, dass der Kläger als ernstzunehmender und zu bekämpfender Gegner des türkischen Staates und nicht „nur“ als mehrfach vorbestrafter Krimineller angesehen werde. Gerade im Hinblick auf die schon länger zurückliegende Tat des Brandanschlags bestünde keine Notwendigkeit weitere Nachforschungen anzustellen, als wenn es sich um eine zeitlich aktuelle Tat handelte. Fälle, in denen anders vorgegangen sei, seien der Behörde auch nicht bekannt. Der von dem türkischen Konsulat ausgestellte Reisepass spreche ebenfalls gegen eine Gefahr der Verfolgung, da der Ausstellung eine Sicherheitsprüfung vorgeschaltet sei, bei der das Konsulat in der Datenbank „Genel Bilgi Toplama“ der türkischen Regierung einsehen könne, ob sicherheitsrelevante Einträge über eine Person vorlägen.

Am 01.12.2016 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid des Bundesamtes vom 08.08.2016 enthaltene Abschiebungsandrohung an (A 10 K 3982/16).

Am 02.12.2016 entschied die Kammer Auskunft beim Auswärtigen Amt, von Amnesty International, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Kamil Taylan einzuholen.

Das Landgericht Karlsruhe setzte die Vollstreckung der verbliebenen Restfreiheitsstrafen am 21.02.2017 zur Bewährung aus mit der Anweisung, dass sich der Kläger sofort in eine Fachklinik zur stationären Entwöhnungsbehandlung und anschließender Nachsorgemaßnahmen zu unterziehen habe. Dieser Anweisung folgte der Kläger zunächst, brach die Behandlung jedoch nach drei Monaten wieder ab, was durch den Berichterstatter angezeigt wurde.

Verwaltungsgericht Karlsruhe:  Die Klage sei zulässig aber unbegründet.

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe sei gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 HS 1 VwGO örtlich zuständig, da die Norm auf Asylbewerber, die ihren (ersten) Asylantrag aus der Haft heraus stellen, entsprechend anzuwenden und der Ort der Inhaftierung behördlich bestimmt sei. Der Kläger war im Zeitpunkt seiner Asylantragsstellung in Heimsheim im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts Karlsruhe inhaftiert. Der Aufenthalt in der Klinik oder ein etwaiger Umzug berühren diese Zuständigkeit nicht.

Die Klage sei jedoch unbegründet, da  der Bescheid des Bundesamtes rechtmäßig sei und den Kläger nicht in seinen Rechten verletze.

Gemäß § 24 Abs. 2 AsylG sei durch das Bundesamt über das Vorliegen von Abschiebungsverboten zu entscheiden, wenn ein Asylantrag gestellt würde. Dies ist jedenfalls nach § 13 Abs. 1, § 14 AsylG dann der Fall, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 droht. Dies habe der Kläger spätestens bei seiner Anhörung durch das Bundesamt im Sinne des § 13 Abs. 1, § 14 AsylG getan, indem er erklärt habe, einen Asylantrag gestellt zu haben, weil er in Deutschland wegen einer politischen Straftat in Haft gekommen sei.

Der Prüfung des Vorliegens von Abschiebungsverboten stünde die bestandskräftige Abschiebungsandrohung nicht entgegen, da sich diese durch die Stellung des Asylantrages erledigt habe. Auch ergäbe sich aus § 60 Abs.9 Satz 2 AufenthG, dass die Gefährlichkeit des Klägers für die Allgemeinheit nach § § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG und der daraus resultierende Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beziehungsweise des subsidiären Schutzstatus nach § 3 Abs. 4 AsylG beziehungsweise § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG der Prüfung nicht entgegenstünde. Der Kläger habe jedoch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies läge im Fall des Klägers nicht vor, da insbesondere Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf, der Abschiebung in die Türkei nicht entgegenstünde.

Das Gericht bestimmte in Abgrenzung zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe mit Bezug auf Art. 1 der UN-Antifolterkonvention Folter als eine absichtliche unmenschliche Behandlung, die sehr schweres und grausames Leid verursacht, wogegen Strafen Maßnahmen mit Sanktionscharakter seien. Sie seien dann als unmenschlich oder erniedrigend zu bewerten, wenn die mit ihnen verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in rechtmäßigen Bestrafungsmethoden enthaltene unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgingen. Eine unmenschliche Behandlung läge vor bei absichtlicher Zufügung schwerer psychischer oder physischer Leiden. Erniedrigend sei die Behandlung, wenn sie in den Opfern Gefühle der Angst, der Schmerzen und der Unterlegenheit weckte, die geeignet seien, die Opfer zu demütigen und ihren körperlichen und moralischen Widerstand zu brechen.

Die Bestimmung des Grades der Gefahr des Eintrittes dieser Rechtsgutsverletzung im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG  sei dabei durch den Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG festzulegen, wobei eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation vorliegen müsse. Demnach sei eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es sei in Hinsicht auf einen vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Antragstellers zu prüfen, ob die Umstände geeignet seien Furcht vor Verfolgung hervorrufen zu können. Dabei soll jedoch auch dann eine beachtliche Wahrscheinlichkeit vorliegen, wenn für den Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der – auch deutlich – unter 50 v.H. liegt. Denn bei der Bewertung des Lebenssachverhaltes hätten die für eine Verfolgung sprechenden Umstände auch dann ein größeres Gewicht wenn unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit ein vernünftig denkender Mensch bei der Abwägung aller Umstände selbst bei geringer mathematischer Wahrscheinlichkeit jedoch wegen der besonderen Schwere des Eingriffs nicht in sein Heimatland zurückkehren würde. Eine bloße theoretische Möglichkeit genügt demnach nicht. So stelle es einen Unterschied dar, ob der Antragssteller lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen beziehungsweise Folter oder gar die Todesstrafe riskieren würde.

Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheine, desto unmittelbarer stehe sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen.

Dabei spiele keine Rolle, ob der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhinge oder sogar zeitlich nicht in nächster Nähe bevorstehe. Bei der Bewertung der Gefahr seien zudem auf allgemeine Prognosetatsachen wie z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen abzustellen.

Um die Abschiebungsverbote überprüfen zu können, müsse der Schutzsuchende die Gründe für seine Verfolgungsfurcht im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. HS VwGO, § 15 und § 25 Abs. 1 AsylG vortragen und unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, der geeignet ist, in Bezug auf seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse, den Anspruch lückenlos zu tragen.

Das Gericht stellte in der Beweisaufnahme das folgende Ermittlungsergebnis zur Lage in der Türkei fest:

Nach dem Putschversuch vom 15./16.07.2016 habe sich die Menschenrechtslage in der Türkei erheblich verschlechtert. Die Regierung verhängte am 20.07.2016 zunächst für drei Monate den Notstand und verlängerte wiederholt in der Folgezeit den Ausnahmezustand kurz vor dessen Ablauf. Die laufende  Verlängerung sei voraussichtlich bis zum 19.10.2017 in Kraft. Mithilfe dieses Ausnahmezustands hat die Regierung sog. „Säuberungsmaßnahmen“ gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet oder denen eine Nähe zur PKK oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen wird. Unter Berufung auf eine angebliche Verbindung zu einer terroristischen Organisation oder mit einer vermeintlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit wurden mehr als 150.000 Staatsdiener entlassen oder suspendiert. Dies kam in jeglichen Berufsgruppen und Sozialschichten vor, wobei die Möglichkeiten eine Entlassung anzufechten, sich immer wieder verändert haben und sind beschwerlich sind. Insgesamt haben nur wenige Betroffene Vertrauen in die Beschwerdemöglichkeiten.

Die Meinungs- und Pressefreiheit seien akut bedroht, da durch Notstandsdekret rund 170 überwiegend Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen wurden. Dabei haben ca. 3.000 Journalisten ihre Anstellung verloren und haben – gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten – keine Aussicht darauf, eine neue zu finden. Zur Legitimation dieses Vorgehens wurde meist der Terrorismustatbestand beziehungsweise der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt und so mehr als 140 Medienschaffende verhaftet worden sein.

Die Unabhängigkeit der Justiz werde durch verschiedene Notstandsdekrete und Gesetzgebungstätigkeit der Regierung im Nachgang zum Putschversuch eingeschränkt und soll von der politischen Exekutive beeinflusst werden. Insbesondere Richter und Staatsanwälte würden bei Widersetzung der Anweisungen, sofort versetzt oder entlassen, was zu Kapazitätsengpässen geführt habe und die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren einschränke.

Zudem wurde die Möglichkeit strengeren Vorgehens im Verfahren gegen Personen, gegen die wegen der Notstanddekrete ermittelt wird geschaffen und so die Verfahrensgarantien im Strafverfahren mit dem Dekret 668 geschwächt. Unter anderem wurde die maximale Dauer des Polizeigewahrsams auf 14 Tage erhöht und die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann nun audio-visuell überwacht werden.

Insgesamt seien bei Verfahren mit politischen Tatvorwürfen beziehungsweise Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum beziehungsweise zumindest nicht durchgängig gewährleistet.

Auf Grund der deutlich erhöhten Festnahmen, die teilweise willkürlich vollzogen werden, von mehr als 100.000 Personen durch die Polizei und Anordnung von Untersuchungshaft gegenüber mehr als 50.000 Personen, bestehe zur Zeit für fast jede Person ein reales Risiko, verhaftet zu werden. Dabei werde auf den Vorwurf der Verbindung zu Terrororganisation abgestellt und das Risiko der Verhaftung wegen früheren Mitgliedschaft oder Aktivität in der PKK oder einer ähnlichen Gruppierung erhöht. Dies betreffe sowohl Personen, die aktuell politisch aktiv seien, als auch solche, die keinerlei politische Aktivitäten mehr ausübten, wobei bereits eine Facebook Notiz oder eine Twitter-Meldung ausreichen könnten, um jemanden für mehrere Jahre in Haft zu schicken. Sogar ein Girokonto bei der falschen Bank könne Auslöser sein.

Die Haftbedingungen seien aufgrund der Überbelegung der Haftanstalten schwierig und es  fehle erheblich an Gefängnis- und medizinischem Personal. Die medizinische Versorgung von kranken Häftlingen sei besorgniserregend. Auch die Versorgung mit Trinkwasser, genügend geheizten Wohnräumen, Frischluft und Licht sei mangelhaft. Eine unabhängige Kontrollinstanz für die Zustände in den Hafteinrichtungen gebe es nicht.

Folter und Misshandlungen seien in der Türkei trotz einer „Null-Toleranz-Politik“ nicht vollständig verschwunden. Vielmehr kommt es seit dem  Putschversuch vom 15./16.07.2016 wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Die Vorwürfe können nur schwer überprüft werden.

Das Auswärtige Amt bestätigte, dass es zu Misshandlungen von sich in Gewahrsam befindlichen Personen gekommen sei und dass derlei Handlungen auch im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes vorkämen wobei nicht gesichtet sei, dass es über diese Fälle hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam komme. Jedoch lägen dem UNO-Sonderberichterstatter  zahlreiche Berichte von Folter und Misshandlungen vor, in denen die Betroffenen unter anderem von massiven Folter- und Gewaltanwendungen berichtet hätten, wobei sie unter Folter gezwungen worden seien, Geständnisse zu unterschreiben oder weitere Verdächtige auf Fotografien zu identifizieren. Es gebe zahlreiche Hinweise auf Folter in Haft. Amnesty International bestätigte das Vorkommen von Folterungen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe und Amnesty International zitieren Berichte über außergesetzliche Tötungen durch Sicherheitskräfte. Dem Verwaltungsgericht wurden in diesem Rahmen mehrere Auskünfte erteilt, aus denen eindeutige Folterungs- und Misshandlungsszenarien innerhalb der Gefängnisse bestätigt wurden.

Des Weiteren wurde festgestellt, dass die Türkei dem Europarat mitgeteilt habe, aufgrund des Ausnahmezustandes die EMRK teilweise auszusetzen.

Es besteht der Vorwurf, dass die durch den Regierungserlass  Nr. 667 vom 22.07.2016 verfügte Straffreiheit für Beamte, die ihre Aufgaben im Rahmen der Notstandsverordnungen ausführen, die Anwendung von Folter und Misshandlungen in der Haft sowie außergesetzliche Tötungen gefördert werden sollen.

Feststehe zudem, dass die türkische diplomatische Vertretungen Informationen über sich im Ausland befindende regierungskritische türkische Staatsangehörige an die türkischen Behörden weiterleiten. Den Erkenntnissen zu Folge geht die Regierung strikt gegen regierungsfeindliche Personen vor und schafft Möglichkeiten diese zu melden. Verdächtige Personen können ohne weitere Beweise aufgrund bloßer Anschuldigungen und Denunziationen durch dritte Personen in den Fokus der Behörden geraten. Die türkische Regierung bemüht sich im Ausland um die Auslieferung vermeintlicher Terroristen. Der türkische Präsident ruft dazu auf Personen mit terroristischen Verbindungen an die Türkei auszuliefern.

In der Türkei werden Personen, gegen die ein Strafverfahren läuft oder die polizeilich gesucht werden, bei der Einreise sicher verhaftet. Personen, welche für die PKK, die Gülen-Bewegung oder andere verdächtige Organisationen aktiv sind beziehungsweise waren, sind gefährdet. Dabei liegt das Augenmerk auf Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Das Auswertige Amt führt aus, dass öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange in der Türkei strafbar sind, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können.

Diesen Erkenntnisstand vorausgesetzt, sei nicht anzunehmen, dass dem Kläger im Falle seiner Abschiebung in die Türkei Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe, da sich die erforderliche Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit weder auf seine kurdische Volkszugehörigkeit stützen ließe, noch auf seine Asylantragstellung und seinen langjährigen Aufenthalt in Deutschland oder seine vermeintliche Teilnahme an Demonstrationen zur Unterstützung kurdischer Belange sowie die angeblichen Erkundigungen türkischer Sicherheitskräfte bei seinen Verwandten in Nusaybin. Auch seine Verurteilung wegen eines politisch motivierten versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung sowie die anderen abgeurteilten Straftaten ergäben keine andere Bewertung.

Das Gericht stellte dabei fest, dass nach der Rechtsprechung davon ausgegangen werde, dass Kurden in der Türkei keiner Gruppenverfolgung unterlägen und daher keine asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten sei.

Die neuen Erkenntnismittel führen zu keiner anderen Bewertung, auch soweit darauf hingewiesen werde, die türkischen Behörden würden Kurden zum Teil diskriminierten. Mangels Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass  es zu schwerwiegender Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte käme, läge keine asylrelevante (Gruppen-) Verfolgung vor. Es fehle bei der gelegentlich vorkommenden Diskriminierung von Kurden an einer derartigen Eingriffsintensität und Verfolgungsdichte.

Eine Verfolgung drohe auch nicht wegen der Stellung des Asylantrags in Deutschland. Dies sei durch ständige Rechtsprechung bestätigt.

Entgegenstehendes würde durch den Erkenntnisstand nicht nachgewiesen. Insbesondere sei es zu keinem Zeitpunkt zu Fällen von Folter gekommen, während des Auskunftsersuchens durch die Polizei bezüglich des Asylverfahrens. Gleiches gelte für zurückkehrende Asylbewerber, welche mehre Jahre oder Jahrzehnte im westlichen Ausland gelebt haben, da  für die türkischen Behörden lediglich die Aktivitäten der zurückkehrende Person im Ausland relevant erscheinen und nicht die Dauer seines Auslandsaufenthaltes.

Hätten sich Kurden in Deutschland an Demonstrationen zur Unterstützung kurdischer Belange beteiligt, sich ansonsten aber nicht politisch betätigt haben, drohe im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei (weiterhin) keine asylrechtlich relevante Verfolgung aufgrund ihrer Teilnahme an Demonstrationen, denn dies stelle in der Türkei keinen Straftatbestand dar. Zwar seien solche Aktivitäten durch türkische Geheimdienste überwacht, diese sind aber im Wesentlichen daran interessiert, Führungspersonen („Kader“) zu identifizieren, um die Organisation der politischen Diaspora-Aktivitäten zu verstehen. Gefährdet seien daher Menschen, welche zum Kader der PKK oder einer anderen illegalen Organisation gehören oder im direkten Kontakt mit Führungspersonen stehen. Könne Personen Propaganda für eine illegale Organisation nachgewiesen werden, seien diese auch gefährdet. Der Kläger sei vor diesem Hintergrund nicht gefährdet, da er nur bis 2014 an Demonstrationen teilgenommen und bei diesen weder eine herausgehobene Stellung ausgeübt noch zu den Führungspersonen Kontakt unterhalten habe.

Bezüglich des Vortrags des Klägers über die vermeintlichen Erkundigungen türkischer Sicherheitskräfte nach dem Kläger bei dessen Verwandten in Nusaybin ergibt sich ebenso keine bedeutsame Wahrscheinlichkeit, da die Kammer den Vortrag als unsubstanttiert  bewertet. Es fehle an erforderlichen Informationen wie der Namen und Anschriften seiner Verwandten und was genau passiert sei. Er konnte lediglich allgemeine Ausführungen machen. Zusätzlich sei der Vortrag widersprüchlich gewesen, da der Kläger zunächst angegeben habe, dass er auf dem Bild mit einer PKK-Fahne abgelichtet sei, später habe er aber angegeben auf dem Foto sei er in der Menge laufend mit einem Handfähnchen der PKK zu sehen.

Zudem sei davon auszugehen, dass es sich bei der behaupteten Befragung der Tante vielmehr um eine Routinedurchsuchung im Rahmen einer groß angelegten örtlichen Sicherheitsoperation gehandelt habe. Dies sei zum gegebenen Zeitpunkt in allen Provinzen der Türkei durchgeführt worden. Zudem seien Ausgangssperren erhoben und militärische Sicherheitsoperationen durchgeführt worden. Der Distrikt Nusaybin, in welchem auch die Stadt Nusaybin liege, sei einer der am häufigsten von Ausgangssperren betroffenen Distrikte gewesen.

Wobei die  die Häuser in den entsprechenden Zonen von Spezialeinheiten kontrolliert und durchsucht worden seien. Bei diesen Durchsuchungen werde standartmäßig nach Personen mit möglichen Verbindungen zur PKK oder anderen illegalen Organisationen gesucht. Bei Auffinden von Anhaltspunkten wurden die anwesenden Personen zu den Aufenthaltsorten der Abgebildeten befragt. Nachdem sich der Kläger nicht exponiert exilpolitisch betätigt habe, sei nicht davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte abweichend hiervon gezielt nach ihm gesucht haben.

Die Verurteilung des Klägers wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung begründe gleichfalls nicht die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit. Zwar könne bei Kurden, die sich in Deutschland exponiert exilpolitisch betätigt haben, im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei asylrechtlich relevante Verfolgung drohen, die Kammer sei aber überzeugt, dass die türkischen Sicherheitsbehörden den Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) als potentiellen Unterstützer der PKK ansehen und dass ihm im Fall seiner Abschiebung daher keine Verfolgung drohe, dabei werde davon ausgegangen, dass die türkischen Behörden um die Verurteilung des Klägers wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung und seine damalige Nähe zur PKK wissen. Insbesondere hat die Bundesrepublik sie gemäß Art. 22 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen über strafrechtliche Verurteilungen türkischer Staatsangehöriger und nachfolgende Maßnahmen, die in das Strafregister eingetragen worden sind, zu unterrichten.

Auch werde der politische Hintergrund der Tat bekannt, da die Türkei solche Informationen über türkische Staatsangehörige und türkische Belange sammle, auch sei von der Tat des Klägers am 10.09.2007, 13.09.2007 und 22.02.2008 berichtet worden wobei in der Meldung vom 13.09.2007das Alter der vier Angeklagten ausdrücklich genannt worden sei. Die Angeklagten hätten laut dem Gericht aus „politischen Motiven“ heraus gehandelt und – nicht wie von ihnen dargestellt – aus jugendlichem Leichtsinn.

Die Behörden seien daher über den Sachverhalt informiert. Dies gilt umso mehr, als es sich bei dem „Idealisten“-Verein um einen politischen Verein handele. „Idealisten“, auch bekannt unter der Bezeichnung „Graue Wölfe“, sind die Mitglieder und Anhänger der „Partei der nationalistischen Bewegung“ MHP. Diese sei die kleinste Fraktion im türkischen Parlament und seit Dekaden erst Unterstützer, dann Koalitionspartner der amtierenden AKP.

Die Identität der Brandstifter dürfte den Behörden ebenfalls bekannt sein, denn trotz dem Ausschluss der Öffentlichkeit  gemäß § 48 Abs. 3 Satz 2 JGG wurde der Name der im Zeitpunkt der Straftat und Hauptverhandlung bereits heranwachsenden (§ 1 Abs. 2 JGG) beziehungsweise volljährigen Angeklagten über den Aushang im Gericht für jeden Besucher öffentlich einsehbar.

Wegen der Schwere der Straftat sei nicht davon auszugehen, dass die türkischen Behörden ihre Datenbestände betreffend den Kläger zwischenzeitlich gelöscht haben und so die Kenntnis darüber verloren hätten. Die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel deuten im Gegenteil darauf hin, dass die türkischen Sicherheitsbehörden vorhandene Informationen über potentielle „Gegner“ über Jahrzehnte hinweg speichern würden.

Die Kammer sei dennoch überzeugt, dass die türkischen Sicherheitsbehörden den Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) als potentiellen Unterstützer der PKK ansehen und dass ihm im Fall seiner Abschiebung daher keine Verfolgung drohe.

Zwar sei davon auszugehen, dass die türkischen Sicherheitsbehörden den Kläger seit seiner strafgerichtlichen Verurteilung wegen versuchten Mordes im Wege der periodischen Beobachtung kontinuierlich überwacht haben, denn der Kläger war verhältnismäßig leicht zu beobachten, da er wiederholt aktenkundig wurde. Er wurde in den dem Brandschlag folgenden Jahren mehrfach strafrechtlich verurteilt und saß wiederholt in Haft. Die Verurteilungen waren der Türkei gemäß dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen jeweils mitzuteilen.

Daraus folge jedoch auch, dass den türkischen Sicherheitsbehörden bekannt sei, dass der Kläger in den letzten Jahren keinerlei politischen Aktivitäten mehr nachgegangen, vielmehr ins Drogenmilieu und die allgemeine Kriminalität abgerutscht sei.

Daher seien zwar nach Abschiebung des Klägers weitere Überwachungsmaßnahmen zu erwarten, aber ein Zugriff nur bei aus ihrer Sicht gefährlichem Verhalten zu befürchten. Dies rechtfertige indes nicht die Feststellung eines Abschiebeverbotes.

Die erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit sei schließlich auch nicht mit Blick auf die weiteren Straftaten des Klägers in Deutschland erfüllt, denn diese weiteren Taten des Klägers, hätten keinen politischen Hintergrund auch wenn er zeitweise  der Gruppe der Red Legion angehört habe, welcher auch überwiegend Kurden angehörten, so vertrat sie doch keine politischen Interessen und  war vielmehr im Bereich der allgemeinen Kriminalität „aktiv“ weswegen sie am 13.06.2013 vom baden-württembergischen Innenminister verboten wurde

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden soll, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, stehe der Abschiebung des Klägers nicht entgegen, da nicht davon auszugehen sei, dass für den Kläger in der Türkei eine derartige Gefahr bestehe. Die Kammer führt dazu aus, dass ihr insbesondere keine Informationen vorlägen, dass der Kläger aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit auf die regelmäßige Einnahme von Medikamenten angewiesen wäre.

Die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes sei gleichfalls rechtmäßig, denn sie war gemäß § 34 Abs. 1 AsylG zu erlassen, weil der Kläger nicht als Asylberechtigter anerkannt wurde, ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wurde, der subsidiäre Schutz nicht gewährt wurde, die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen und die Niederlassungserlaubnis des Klägers aufgrund der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung vom 28.05.2015 gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erloschen sei. Die Dauer der Ausreisefrist von einer Woche ergibt sich aus § 36 Abs. 1 AsylG, die Dauer des gemäß § 75 Nr. 12, § 11 Abs. 1 u. 2 AufenthG festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbots sei ebenfalls rechtmäßig.

Denn gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Die Länge der Frist liege gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen der Behörde, wobei die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Eine Grenze wird nach Abs.3 jedoch bei zehn Jahren gezogen.

Das Gericht ist der Auffassung, die Ermessensentscheidung des Bundesamts, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf neun Jahre zu befristen, weise keine gerichtlich zu beanstandende Ermessensfehler auf und verweist zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts Stuttgart in seinem Urteil vom 15.03.2016 (S. 9 f.), die Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Nichtzulassungsbeschluss vom 09.08.2016 (S. 4 ff.), jeweils zur inhaltlich entsprechenden Regelung in der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 28.05.2015, und die negative Einschätzung der Fachklinik … in ihrer Stellungnahme vom 04.07.2017 hinsichtlich der Rückfallwahrscheinlichkeit des Klägers.

Zudem weist die Kammer darauf hin dass durch freiwillige Ausreise die Sperrfrist vermieden werden könne, denn das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot entfalte, wie aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 AufenthG und im Umkehrschluss aus § 11 Abs. 6 Satz 1 AufenthG folge, keine Sperrwirkung, wenn ein Ausländer, dem die Abschiebung angedroht wurde, freiwillig ausreise.

Quelle: Verwaltungsgericht Karlsruhe

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