§ 85 SGB IX Archive - MTH Rechtsanwälte Köln
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Tag Archive: § 85 SGB IX

  1. Arbeitsrecht: Die Kündigung des Mitarbeiters einer Behindertenwerkstatt

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    Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 11.11.2013, Az.: 9 Sa 469/13

    Die §§ 33-43 SGB IX enthalten Regelungen, die die Erwerbstätigkeit behinderter Menschen fördern sollen. Gem. § 33 I SGB IX werden die erforderlichen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht, um die Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern. Dazu zählen gem. § 39 SGB IX Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (§ 136 SGB IX).

    Die Werkstatt für behinderte Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, soll der Eingliederung dieser Menschen in das Arbeitsleben dienen.

    Behinderte Menschen, die die Voraussetzungen für eine Beschäftigung in einer Werkstatt nicht erfüllen, sollen gem. § 136 Abs. 3 SGB IX in Einrichtungen, sog. Förderbereich, oder Gruppen betreut und gefördert werden, die der Werkstatt angegliedert sind.

    Daher ist zwischen dem sogenannten Werkstattbereich und Förderbereich zu unterscheiden. Die Abgrenzung ist für die Wirksamkeit der Beendigung des Vertragsverhältnisses von Bedeutung.

    welche Kündigungsgründe gibt es

    In dem oben genannten Urteil hatte das Landesarbeitsgericht Düsseldorf darüber zu entscheiden, ob ein Werkstattvertrag vorliegt und welche Voraussetzungen an dessen Kündigung zu stellen sind.

    Sachverhalt des Gerichtsverfahrens

    Zwischen den Parteien war die Beendigung des zwischen den Parteien bestehenden Vertragsverhältnisses streitig

    Die Beklagte betrieb mehrere Werkstätten für behinderte Menschen und war gem. § 138 SGB IX als Einrichtung zur Eingliederung behinderter Erwachsener in das Arbeitsleben anerkannt.

    Kläger war zu 100% schwerbehindert

    Der Kläger war als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 % anerkannt. Er litt an einer seltenen Chromosomen-Störung in Form des Smith-Magenis-Syndroms. Seine geistige Leistungsfähigkeit war eingeschränkt und seine motorische Entwicklung verzögert.

    Der Kläger war zunächst seit dem 01.11.2005 in der Werkstatt für Behinderte beschäftigt. Bei der Beklagten war er aufgrund seiner beschränkten Einsatzfähigkeit  nicht in der Werkstatt, sondern im „Förderungsbereich“ untergebracht. Auch dort hatte er allerdings tatsächliche Tätigkeiten geleistet, etwa das Schreddern und das Prüfen von Kaminanzündern. Sein durchschnittliches Monatseinkommen belief sich auf einen Betrag in Höhe von € 101,50.

    Nach dem Wortlaut des Werkstattvertrages konnte dieser beendet werden, soweit die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Werkstatt nicht mehr vorliegen. Insbesondere konnte er bei erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung fristlos beendet werden.

    Kläger hat wiederholt Wutausbrüche

    Die ersten drei Beschäftigungsjahre verliefen relativ unproblematisch. Seit Ende des Jahres 2008 kam es beim Kläger vermehrt zu Wutausbrüchen. Diese richteten sich zunächst nur gegen Sachen. Später kam es zu Beschimpfungen und Bedrohungen gegenüber anderen schwerbehinderten Beschäftigten und Betreuern und schließlich sogar zu körperlichen Übergriffen.

    Beklagte kündigt das Mietverhältnis

    Die Beklagte stellte den Kläger am 17.10.2012 frei und mit Schreiben vom 28.11.2012 kündigte sie das Werkstattverhältnis zum 30.11.2012.

    Daraufhin erhob der Kläger Klage beim Arbeitsgericht Oberhausen, bei dem festgestellt wurde, dass die Kündigung aus formalen Gründen unwirksam gewesen war. Dagegen wandte sich die Beklagte mit der Berufung.

    Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf

    Das LAG Düsseldorf folgte der Ansicht der Beklagte und urteilte nun, dass das Werkstattverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 28.11.2012 mit Zustimmung des Fachausschusses am 05.12.2012 beendet worden war. Die Kündigung sei materiell wirksam. Nach der Regelung im Werkstattvertrag könne die ausgesprochene Kündigung Wirksamkeit allerdings erst zum 05.12.2012 entfalten, weil erst zu diesem Zeitpunkt die Zustimmung des Fachausschusses vorgelegen habe.

    Die Auslegung des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrages ergebe, dass ein Werkstattverhältnis gem. § 138 Abs. 1 SGB bestanden habe, das sich auf eine Beschäftigung in einer Werkstatt gem. § 136 Abs. 1 und 2 SGB IX bezogen habe. Neben der Arbeitsleistung seien dort für den behinderten Menschen auch psychosoziale Leistungen und medizinische sowie pflegerische Versorgung vorgehalten.

    Gericht urteilt, dass der Kläger nicht werkstattfähig ist

    Bei dem Kläger handele es sich nicht um eine nicht werkstattsfähige Person. Eine solche sei anzunehmen, wenn trotz angemessener Betreuung eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung zu erwarten sei oder bei denen das Ausmaß der Pflege und Betreuung die Teilnahme am Berufsbildungsbereich dauerhaft nicht zugelassen hätten.

    Ferner ergebe sich aus der Vertragsauslegung, dass es sich bei der Beschäftigung nicht um einen besonderen „Förderbereich“ nach § 136 Abs. 3 SGB IX handele, die sich an behinderte Menschen richte, die die Aufnahmevoraussetzungen nach § 137 SGB IX nicht erfüllen. Bei diesen Menschen handele es sich um eine eigene von der Werkstatt getrennte Einrichtung. Die dort betreuten Menschen seien keine arbeitsähnlichen Personen. Auch wenn der Kläger dem  „Förderbereich“ zugewiesen gewesen sei, handele es nicht um den Bereich i.S.v. § 136 Abs. 3 SGB IX, sondern um einen besonderen Bereich der Werkstatt. Außerdem habe der Kläger produktive Arbeit erbracht und für seine Tätigkeit Entgelt erhalten.

    Die Kündigung sei nicht gem. § 134 BGB i.V.m § 85 SGB IX nichtig. Der Kläger genieße zwar als schwerbehinderter Mensch grundsätzlich den besonderen Kündigungsschutz nach § 85 SGB IX. Allerdings finde diese Bestimmung im Werkvertragsverhältnis keine Anwendung, da die Auslegung dieser Vorschrift ergebe, dass arbeitnehmerähnliche Personen, wie der Kläger, nicht erfasst seien. Dafür sprächen zum einen der Wortlaut und zum anderen die systematische Stellung im Kapitel 3, in dem sich alle übrigen Vorschriften mit dem Arbeitsverhältnis befassten. Der Kläger stünde jedoch nicht in einer abhängigen Beschäftigung als Arbeitnehmer, da bei ihm im Rahmen des Werkstattvertrages die Betreuung und die Pflege im Vordergrund stünden.

    Nach § 626 Abs. 1 BGB könne ein Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist aus wichtigem Grund gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigen aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden könne.

    Der wichtige Grund für die Kündigung sei die fehlende Werkstattfähigkeit

    Ein wichtiger Grund liege hier in dem Verlust der Werkstattfähigkeit. Diese erfordere, dass der behinderte Mensch wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich vertretbarer Arbeitsleistung erbringen könne und dass er gemeinschaftsfähig sei. Der Kläger habe sich seit dem Ende 2008 in erheblichem Maße eigen- und fremdgefährdend verhalten. In einer Vielzahl von Fällen habe er mit dem Wurf von erheblich gefährdenden Gegenständen gedroht. Dabei sei zu beachten, dass sich die Aggression gesteigert habe und dazu geführt habe, dass der Kläger einen ebenfalls behinderten Menschen mit der Faust auf den Kopf geschlagen habe.

    Eine Weiterbeschäftigung des Klägers trotz des Verlustes der Werkstattfähigkeit sei bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zumutbar gewesen, da von ihm eine erheblich Gefahr für die Sicherheit der übrigen behinderten Menschen sowie der Betreuer ausgegangen sei.

    Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, vor der Kündigung des Vertrages die Stellungnahme des Fachausschusses einzuholen. Bei einer fristlosen Kündigung werde diese nachträglich eingeholt. Die Beendigung werde erst bei der Zustimmung wirksam.  Der Fachausschuss habe am 05.12.2012 zugestimmt, so dass  die Kündigung erst zu diesem Zeitpunkt wirken konnte.

    Quelle: LAG Düsseldorf

    Wichtiger Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrages ist nach bestem Wissen und Kenntnisstand erstellt worden. Die Komplexität und der ständige Wandel der behandelten Materie machen es jedoch erforderlich, Haftung und Gewähr auszuschließen.

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  2. Arbeitsrecht: Sonderkündigungsrecht bei schwerbehinderten Arbeitnehmern

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    Die Kündigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern untersteht dem Sonderkündigungsrecht des Sozialgesetzbuches IX. Gem. § 85 SGB IX bedarf die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes.

    I. Wann liegt eine Schwerbehinderung vor?
    Gem. § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von mindestens 50% vorliegt.
    Darüber hinaus können Menschen, die einen Behinderungsgrad von weniger als 50% aber von mindestens 30% haben, gem. § 2 Abs. 3 SGB IX schwerbehinderten Menschen durch die Agentur für Arbeit gleichgestellt werden. Diese Gleichstellung soll erfolgen, wenn die behinderte Person aufgrund ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder behalten könnte.

    Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Zustimmung des Integrationsamtes bei einer Behinderung von mindestens 50% auch ohne die behördliche Feststellung der Behinderung nach § 69 SGB IX erforderlich ist. Denn die Feststellung der Behinderung hat in diesem Fall keine konstitutive Wirkung.
    Anders liegt es im Falle der Gleichstellung durch die Agentur für Arbeit. In diesem Fall hat der Bescheid der Agentur für Arbeit konstitutive Wirkung und der Status der Schwerbehinderung wird somit erst durch den Erlass des Bescheides begründet. Die behördliche Gleichstellung wirkt dann auf den Tag des Antragseingangs zurück (§ 68 Abs. 2 S. 2 SGB IX).

    Eine weitere Gleichstellung erfolgt gem. § 68 IV SGB IX auch für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene während der Zeit einer Berufsausbildung in Betrieben und Dienststellen, auch wenn der Grad der Behinderung weniger als 30 beträgt oder ein Grad der Behinderung nicht festgestellt ist.
    Auch hier erfolgt die Gleichstellung durch die Agentur für Arbeit und hat konstitutive Wirkung.

    Sollten Sie ein arbeitsrechtliches Problem haben oder Partei eines Kündigungsstreites sein, unterstützen wir Sie gerne. Rufen Sie uns an, damit wir Ihnen ein Angebot unterbreiten können. Senden Sie uns entweder eine Email an info@mth-partner.de oder wählen Sie 0221 – 80187670.

    II. Umfang des Kündigungsschutzes
    Der Sonderkündigungsschutz des SGB IX besteht auch in den Fällen, in denen der Arbeitgeber die Kündigung ohne die Kenntnis von der Schwerbehinderung ausgesprochen hat. Nach ständiger Rechtsprechung ist dann allerdings Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer den Antrag auf Feststellung der Behinderung 3 Wochen vor Kündigungszugang gestellt hat und den Arbeitgeber innerhalb einer angemessenen Frist (regelmäßig 1 Monat nach Kündigungszugang) über das Vorliegen der Behinderung bzw. über den Antrag bei der Behörde unterrichtet hat.

    Die Sonderkündigungsregeln finden gem. § 90 Abs. 2a SGB IX dann keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Integrationsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 S. 2 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte.

    Die Fristregelung des § 69 Abs. 1 S. 2 SGB IX verweist auf § 14 Abs. 2 S. 2 und 4, Abs. 5 S. 2 und 5 SGB IX. Ist die Entscheidung über die Feststellung danach ohne Gutachten möglich, soll innerhalb von drei Wochen entschieden werden. Wenn kein Gutachten notwendig ist, soll unverzüglich ein Sachverständiger beauftragt werden, der innerhalb von 2 Wochen ein Gutachten zu erstellen hat.

    Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber Missbrauchsfällen entgegenwirken, bei denen der Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung nur gestellt wurde, um in den Genuss des vorläufigen Sonderkündigungsschutzes zu kommen.

    Die Regelung des § 90 Abs. 2a SGB IX findet auch auf Arbeitnehmer Anwendung, die schwerbehinderten Arbeitnehmern gleichgestellt sind (BAG, Urteil vom 1. März 2007 – 2 AZR 217/06).

    III. Entscheidung des Integrationsamtes
    Ist der Arbeitnehmer tatsächlich schwerbehindert oder einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, ist somit die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen.

    Kommt eine gütliche Einigung § 87 Abs. 3 SGB IX nicht zustande, entscheidet das Integrationsamt durch Verwaltungsakt. Die Entscheidung hat insofern nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen. Das Integrationsamt hat somit das Interesse des schwerbehinderten Menschen an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes gegen die Interessen des Arbeitgebers abzuwägen.

    Dabei werden neben dem eigentlichen Kündigungsgrund Kenndaten wie Art und Schwere der Behinderung, das Alter des Arbeitnehmers, die Dauer der Betriebszugehörigkeit aber auch die Größe und die wirtschaftliche Situation des Arbeitgebers in das Ermessen mit einbezogen.

    Allgemein verliert der Sonderkündigungsschutz an Intensität, wenn der Kündigungsgrund nicht im Zusammenhang mit der anerkannten Behinderung steht. So werden schwerbehinderte Arbeitnehmer im Rahmen verhaltensbedingter Kündigungen nicht behinderten Arbeitnehmern nahezu gleichgestellt.

    Allerdings ist auch hier im Ermessen zu berücksichtigen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber bzw. die Behindertenvertretung zur Vermeidung im Vorfeld unternommen haben.

    Bei einer ordentlichen Kündigung hat das Integrationsamt die Entscheidung gem. § 88 Abs. 1 SGB IX innerhalb eines Monats vom Tage des Antragseingangs zu treffen. Bei einer außerordentlichen Kündigung ist das Integrationsamt gem. § 91 Abs. 3 SGB verpflichtet, eine Entscheidung innerhalb von 2 Wochen zutreffen, ansonsten gilt die Zustimmung als erteilt.

    Da es sich bei der Zustimmung um einen Verwaltungsakt handelt, kann die jeweils beschwerte Partei gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegen.

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