Hartz 4 Niederlassungserlaubnis Archive - MTH Rechtsanwälte Köln
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Tag Archive: Hartz 4 Niederlassungserlaubnis

  1. Ausländerrecht: Die Sicherung des Lebensunterhalts bei Erteilung einer Niederlassungserlaubnis

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    OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.01.2021, Az.: 2 L 102/19

    Eine Möglichkeit, sich in Deutschland niederlassen zu können ist durch den Erwerb einer Niederlassungserlaubnis. Diese ist  an gewisse Voraussetzungen geknüpft, wie zum Beispiel den vorherigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder aber die Zahlung von Pflichtbeiträgen in die gesetzliche Rentenversicherung für 60 Monate.

    Eine weitere Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (egal ob Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis) ist die Sicherung des Lebensunterhalts. Dies ist in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geregelt, welcher die allgemeinen Voraussetzungen der Erteilung eines Aufenthaltstitels regelt.

    Hinsichtlich der Sicherung des Lebensunterhalts wird aber auch Rücksicht auf diejenigen genommen, welche diese Voraussetzung krankheitsbedingt nicht erfüllen können. Davon kann zum Beipiel abgesehen werden, wenn man dies auf Grund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit nicht erfüllen kann. Dasselbe gilt für die Zahlung der Rentenversicherungspflichtbeiträge.

    Im vorliegenden Fall wurde einer Klägerin auf Grund ihrer krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit trotz fehlender Pflichtbeitragszahlung eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Nach Berufung durch die Ausländerbehörde aber wurde dieses Urteil geändert, da die Krankheit der Klägerin diese, zumindest in den ersten 7 Jahren ihres rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland, nicht daran gehindert hatte, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen.

    Sachverhalt des gerichtlichen Verfahrens:

    Kosovarische Klägerin erhielt immer wieder Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen

    Die 1961 geborene Klägerin war Staatsangehörige des Kosovo und reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern am 13. Dezember 1999 in das Bundesgebiet ein. Die Asylanträge der Familie lehnte das BAMF mit Bescheid vom 14. Mai 2002 ab. Auf die daraufhin erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Magdeburg mit Urteil vom 2. Juli 2003 die Bundesrepublik Deutschland festzustellen, dass beim Ehemann der Klägerin die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG vorliegen; im Übrigen blieb die Klage ohne Erfolg. Ab dem 26. Januar 2006 wurde die Abschiebung der Klägerin ausgesetzt; eine Erwerbstätigkeit wurde zunächst nicht, ab dem 23. Januar 2007 mit Erlaubnis der Ausländerbehörde und später wiederum nicht gestattet. Eine Aufenthaltserlaubnis wurde ihr zwischen 2008 und 2011 immer wieder erteilt, die letzte Erteilung erfolgte hierbei am 7. März 2014, welche nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG bis zum 7. März 2015 befristet wurde, und die in der Folgezeit mehrfach verlängert wurde. Sämtliche Aufenthaltserlaubnisse sowie die zwischenzeitlich ausgestellten Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 5 AufenthG enthielten jeweils die Nebenbestimmung, dass die Erwerbstätigkeit gestattet war.

    Antrag auf Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG lehnte die Ausländerbehörde mangels Sicherung des Lebensunterhalts ab

    Den von der Klägerin am 18. April 2016 gestellten Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Februar 2018 ab, weil der Lebensunterhalt der Klägerin nicht gesichert gewesen sei (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Von der Erfüllung dieser Voraussetzung konnte nicht nach § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG abgesehen werden. Das vom Jobcenter erstattete Gutachten hatte ergeben, dass die Klägerin täglich weniger als drei Stunden und wöchentlich weniger als 15 Stunden leistungsfähig sei und diese aufgehobene Leistungsfähigkeit laut Einschätzung der sozialmedizinischen gutachterlichen Stellungnahme voraussichtlich bis zu sechs Monate dauere.

    Nach Einholung eines Gutachtens sei die Klägerin erwerbsfähig

    Nach dieser Einschätzung sei die Klägerin weiterhin als erwerbsfähig anzusehen, wenn auch mit Einschränkungen. Dem Gutachten war auch zu entnehmen, dass durch medizinische Reha-Maßnahmen eine ausreichende Leistungsfähigkeit hergestellt werden würde. Zudem würde sich eine deutliche Reduzierung des Körpergewichts positiv auf die gesundheitliche Situation auswirken. Auch hatte die Klägerin laut Versicherungsverlauf der Deutschen Rentenversicherung keine 60 Monate Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Der Ausnahmetatbestand des § 9 Abs. 6 Satz 2 AufenthG war auch insoweit nicht gegeben. Es könne nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, einen fast zehn Jahre währenden Bezug öffentlicher Mittel und die Nichtleistung von Pflichtbeiträgen zur Rentenversicherung mit einer Niederlassungserlaubnis zu belohnen.

    Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2018 zurück.

    Gegen die Ablehnung reichte die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht ein

    Am 6. November 2018 erhob die Klägerin Klage und führte zur Begründung u.a. aus: Die vorgelegten fachärztlichen Atteste und Bescheinigungen belegten, dass sie aus gesundheitlichen Gründen unverschuldet an der Aufnahme einer sozialabgabenpflichtigen Erwerbstätigkeit gehindert war. Sie wiesen eine schwere Rheumaerkrankung aus und bestätigten den hohen Schweregrad der Erkrankung. Aus einem Attest ließe sich ein zudem behandlungsbedürftiger Bandscheibenvorfall entnehmen. Zwischenzeitlich hatte die Bundesagentur für Arbeit in einer sozialmedizinischen gutachterlichen Stellungnahme vom 6. Oktober 2017 festgestellt, dass die Klägerin nicht arbeitsfähig und damit auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar sei. Das Gutachten spreche von schweren Funktionsstörungen des Nervensystems sowie des Stütz- und Bewegungssystems. Aus einem weiteren Attest der H-Fachklinik ergab sich ein umfangreiches und multiples Krankheitsbild.

    Die Klägerin beantragte, den Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesverwaltungsamts Sachsen-Anhalt vom 8. Oktober 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, nach Rechtsauffassung des Gerichts den Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis neu zu bescheiden.

    Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Sie hatte u.a. vorgetragen: Die Klägerin war nicht als dauerhaft erwerbsunfähig anzusehen. Dies wurde auch nicht durch die vorgelegten Atteste belegt. Zudem ging aus den umfangreichen ärztlichen Stellungnahmen hervor, dass die Klägerin wiederholt ärztlichen Empfehlungen nicht nachgekommen war. Sie hatte ihren derzeitigen gesundheitlichen Zustand in gewissem Umfang auch selbst zu verantworten. Im Übrigen verfügte die Klägerin nach dem eingereichten Versicherungsverlauf nicht über die notwendigen 60 Monate Beitragsleistungen. Die Klägerin traf für den von ihr geltend gemachten Ausnahmetatbestand die materielle Beweislast.

    Verwaltungsgericht verurteilt die Ausländerbehörde zur Erteilung der Niederlassungserlaubnis

    Mit dem angefochtenen Urteil hatte das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die begehrte Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Zur Begründung hatte es u.a. ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 sowie Nr. 4 bis 9 AufenthG erfülle die Klägerin. Dies ergebe sich aus dem Verwaltungsvorgang und werde im Übrigen von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt. Von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, die die Klägerin unstreitig nicht erfülle, sei nach § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG abzusehen. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen dieses Ausnahmetatbestandes sei die Zuerkennung der Niederlassungserlaubnis. Die Krankheit bzw. Behinderung der Klägerin hindere sie auf nicht absehbare Zeit, jedenfalls für länger als sechs Monate, an der Erfüllung der Integrationsvoraussetzung der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts sowie der weiteren Erbringung von Pflichtbeiträgen zur Rentenversicherung. Dies ergebe sich aus der Vielzahl der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen. Aus der Entwicklung in den vergangenen Jahren sei ersichtlich gewesen, dass sich die Erkrankungen und daraus folgenden Einschränkungen offensichtlich nicht innerhalb von sechs Monaten beheben ließen; es sei auch nicht erkennbar, dass dies nunmehr innerhalb von sechs Monaten geschehen werde. Die letzten sozialmedizinischen Begutachtungen durch die Bundesagentur für Arbeit stellten jeweils fortlaufend und mittlerweile für fast zwei Jahre eine Einschränkung von voraussichtlich unter sechs Monaten fest. Das der Beklagten nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen sei auf Null reduziert. Die dazu nötige Ausnahmesituation liege darin begründet, dass die Beklagte allein die fehlenden Integrationsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG als für den Anspruch schädlich ansehe. Weitere Gesichtspunkte, die gegen einen verfestigten Aufenthalt der Klägerin in Deutschland sprechen könnten, seien auch nicht ersichtlich. Die denkbaren Ermessenserwägungen, also die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, die Integration des Ausländers in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland, die Straffälligkeit von Personen, mit denen der Ausländer in familiärer Lebensgemeinschaft lebe, selbst geschaffene oder verschuldete Duldungsgründe, soweit sie nach § 102 Abs. 2 AufenthG anrechenbar seien, und die Fortdauer des Aufenthaltszwecks bzw. der Schutzgründe, die die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigten, seien hinsichtlich der Klägerin ersichtlich positiv zu werten. Die Klägerin spreche gut Deutsch, ihre mittlerweile erwachsenen Kinder seien gut integriert und arbeiteten. Sie habe jedenfalls in der Vergangenheit gearbeitet und sich in dem Psychologischen Zentrum für Flüchtlinge und Integration engagiert. Anhaltspunkte, die gegen eine Verfestigung des Aufenthaltsrechts sprächen, lägen somit nicht vor.

    Die vom Senat zugelassene Berufung hatte die Beklagte wie folgt begründet: Es könne nicht lediglich auf die aktuelle gesundheitliche Situation und die nunmehr gegebene Erwerbsunfähigkeit der Klägerin abgestellt werden. Die Klägerin war zwar derzeit nicht imstande, täglich mehr als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einer Tätigkeit nachzugehen. Diese Einschränkungen bestünden jedoch nicht dauerhaft. Erwerbsgemindert sei nur, wer „auf nicht absehbare Zeit“, also länger als sechs Monate, diesen Einschränkungen unterliege. Dies sei nach den vorliegenden sozialmedizinischen Stellungnahmen und Gutachten nicht der Fall. Selbst wenn in der Person der Klägerin eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit vorläge und man bei der Beurteilung dieses Rechtsbegriffes auf die jetzige Sachlage abstelle, folge daraus nicht zwingend die Verpflichtung, die begehrte Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Das ihr eingeräumte Ermessen sei nicht auf Null reduziert. Auch insoweit dürfe nicht ausschließlich auf die jetzige vermeintliche Erwerbsunfähigkeit der Klägerin abgestellt werden. Andernfalls wäre bei jedweder fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts infolge einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen, so dass die Ermessensregelung des § 26 Abs. 4 AufenthG praktisch leerliefe. Insbesondere sei für die Ermessensentscheidung erheblich, dass die Klägerin in der Vergangenheit keine Anstrengungen unternommen hatte, um die geforderten rentenversicherungsrechtlichen Zeiten zu erwerben. Sie war nachweisbar und aktenkundig nur in untergeordneter Art und Weise einer Beschäftigung nachgegangen. Nach Aktenlage hatte sich die Klägerin (auch wenn nicht alle Zeiten belegt seien) in den Jahren 2010 bis 2013 durchschnittlich 12 Stunden im Monat für Übersetzungsleistungen ehrenamtlich engagiert und hierfür eine Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Tätigkeiten erhalten. Aus dem am 23. März 2020 bei ihr eingereichten Rentenversicherungsverlauf vom 18. Oktober 2019 ging hervor, dass sie bisher keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen war. In diesem Verlauf waren lediglich Zeiten enthalten, in denen durch das Jobcenter bis zum 31. Dezember 2010 Pflichtbeiträge abgeführt worden seien, sowie Zeiten mit geringfügigen, nicht versicherungspflichtigen Beschäftigungen. Nach den darin enthaltenen Erläuterungen und Hinweisen der Deutschen Rentenversicherung waren während der mit „geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung“ gekennzeichneten Zeiten Arbeitsentgelte erzielt worden, für das ausschließlich der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil getragen hatte. Diese Tätigkeiten seien jedoch so geringfügig gewesen, dass sie für eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten. Der Klägerin müsse somit entgegengehalten werden, dass sie offensichtlich zu keinem Zeitpunkt in Erwägung gezogen hatte, ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis in Vollzeit aufzunehmen, um eine Altersvorsorge zu betreiben. Gründe, die dem entgegengestanden haben könnten, seien weder dargelegt noch ersichtlich gewesen. Die Klägerin hatte während ihres nunmehr über 20-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet (davon über 12 Jahre mit einem Aufenthaltsrecht) ausreichend Gelegenheit gehabt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und rentenrechtliche Anwartschaften zu erzielen. Ihr Gesundheitszustand hatte eine solche Erwerbstätigkeit zugelassen. Von einer gelungenen Integration konnte deshalb keine Rede sein. Die Vorschrift des § 26 Abs. 4 AufenthG habe auch die wirtschaftliche Integration in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland im Blick.

    Die Beklagte beantragte, das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

    Die Klägerin beantragte, die Berufung zurückzuweisen.

    Hierzu trug sie vor, dass sie auch in der Vergangenheit aufgrund ihrer schweren Erkrankung unverschuldet nicht in der Lage gewesen war, die notwendigen 60 Monate Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung durch die Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zu erbringen. Sie sei über einen sehr langen Zeitraum arbeitsunfähig gewesen. Auch dies ergebe sich aus den vorliegenden Befundberichten.

    Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt:

    Berufungsgericht entscheidet, dass die Klägerin keine Niederlassungserlaubnis erhält

    Die beim OVG Sachsen-Anhalt eingereichte Berufung hatte Erfolg. Der Senat entschied über die Berufung der Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, da er die Berufung einstimmig für begründet und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich hielt.

    Die zulässige Berufung der Beklagten war begründet.

    Das Verwaltungsgericht hatte die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, der Klägerin die von ihr begehrte Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Die Klägerin hatte weder hierauf einen Anspruch (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), noch auf Neubescheidung ihres Erlaubnisantrages (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

    Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach dem fünften Abschnitt des AufenthG besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Nach § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gilt § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 AufenthG entsprechend.

    Klägerin könne ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig aufbringen

    Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG verlangt, dass der Lebensunterhalt des Ausländers gesichert ist. Diese Voraussetzung aber erfüllte die Klägerin nicht. Nach der gesetzlichen Definition in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Nicht als Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gilt gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG der Bezug von Kindergeld, Kinderzuschlag, Erziehungsgeld, Elterngeld, Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch, dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, öffentlichen Mitteln, die auf Beitragsleistungen beruhen oder die gewährt werden, um den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, und Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Da die Klägerin und ihr Ehemann nach den im erstinstanzlichen Verfahren zum Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingereichten Unterlagen Leistungen nach dem SGB II bezogen und auch keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass sie eine auf Dauer angelegte Erwerbstätigkeit (wieder) aufgenommen hätten oder wiederaufnehmen werden, die zur Deckung des Bedarfs der Familie ausreicht, war der Lebensunterhalt der Klägerin nicht im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig gewesen.

    Auch habe die Klägerin keine 60 Monate Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung erbracht

    Die Klägerin hatte auch nicht mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens nachgewiesen.

    § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG fordert nach der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ein Aufbringen der Beiträge durch den Ausländer selbst; Beiträge, die bis zum Jahr 2010 während des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II von der Arbeitsverwaltung erbracht wurden, sollen diese Voraussetzung nicht erfüllen (BayVGH, Beschluss vom 7. Dezember 2015 – 19 ZB 14.2293 – juris Rn. 7 ff.; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 9 Rn. 47 f.; Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 9 Rn. 10; a.A.: Maor, in: BeckOK Kluth/Heusch, AufenthG § 9 Rn. 11). Dafür spricht der Wortlaut des Gesetzes sowie der Umstand, dass die den Pflichtbeiträgen aufenthaltsrechtlich gleichwertigen freiwilligen Beiträge zur Rentenversicherung gemäß §§ 7, 171, 173 SGB nur vom Versicherten selbst geleistet werden konnten und können (BayVGH, Urteil vom 7. Dezember 2015, a.a.O.). Folgt man dieser Auffassung, erfüllte die Klägerin die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG schon deshalb nicht, weil der von der Beklagten zuletzt vorgelegte Rentenversicherungsverlauf für die Klägerin vom 18. Oktober 2019 lediglich von der Arbeitsverwaltung in der Zeit vom 17. Juni 2008 bis 31. Dezember 2010 geleistete Pflichtbeiträge während des Bezugs von Arbeitslosengeld II auswies sowie geringfügige nichtversicherungspflichtige Beschäftigungen, in denen Arbeitsentgelte erzielt wurden, für die ausschließlich der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil getragen hatte.

    Selbst wenn die von der Arbeitsverwaltung und ausschließlich vom Arbeitgeber aufgebrachten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als ausreichend anzusehen sein sollten, wären lediglich für 56 Monate (Juni 2008 bis Dezember 2010 (31 Monate) und März 2013 bis März 2015 (25 Monate) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet worden.

    Auch könne sich die Klägerin nicht wirksam auf eine Krankheit berufen

    Der Klägerin kam weiterhin auch nicht die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG zugute, wonach von den Voraussetzungen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 abgesehen wird, wenn der Ausländer diese aus den in Satz 3 genannten Gründen, mithin wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung, nicht erfüllen kann.

    Es sprach hier allerdings vieles dafür, dass sich die Klägerin in Bezug auf die Sicherung des Lebensunterhalts auf § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG stützen konnte. Die Anwendung dieser Vorschriften setzt in Bezug auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG voraus, dass der Ausländer (nahezu) dauerhaft erwerbsgemindert ist, also – etwa aufgrund einer Krankheit – (nahezu) dauerhaft nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu sichern (vgl. Beschluss des Senats vom 14. März 2019 – 2 L 120/16 – juris Rn. 19, m.w.N.). Zur Bestimmung der krankheits- oder behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit wird auf die sozialrechtlichen Bestimmungen über die (teilweise) Erwerbsunfähigkeit nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 und Satz 2 bzw. Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI zurückgegriffen, wonach teilweise erwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, und vollerwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl. NdsOVG, Urteil vom 16. Juli 2020 – 13 LC 41/19 – juris Rn. 32; Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 9 Rn. 13; Dienelt, a.a.O., § 9 Rn. 93). Dabei bedeutet „auf nicht absehbare Zeit“ länger als sechs Monate (Gürtner, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 43 SGB VI Rn. 25, unter Bezugnahme auf § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet werden, und BSG, Urteil vom 23. März 1977 – 4 RJ 49/76 – juris Rn. 16). Diesen rechtlichen Ansatz hielt auch die Beklagte für zutreffend.

    Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Würdigung, aus der Vielzahl der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen ergebe sich, dass die Klägerin aufgrund der festgestellten Erkrankungen jedenfalls für länger als sechs Monate gehindert gewesen sei, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, erschien plausibel.

    Die sozialmedizinischen gutachterlichen Stellungnahmen der Bundesagentur für Arbeit (BA) vom 30. Oktober 2013 (Beiakte B, Bl. 334) und 16. Oktober 2015 (Beiakte B, Bl. 362), in denen der Klägerin jeweils noch eine vollschichtige Einsetzbarkeit von täglich sechs Stunden und mehr attestiert wurde, hatte das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zu Recht nicht in seine Würdigung einbezogen; denn diese lagen schon so lange zurück, dass ihnen für die Einschätzung des aktuellen Gesundheitszustandes der Klägerin und ihre künftige Einsetzbarkeit für Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt keine maßgebliche Bedeutung mehr zukam.

    Die sozialmedizinische gutachterliche Stellungnahme der BA vom 6. Oktober 2017 ging davon aus, dass die bei der Klägerin festgestellten schwerwiegenden gesundheitlichen Störungen (vordergründig: Hirntumor, Erkrankung des rheumatoiden Formenkreises, psychische Minderbelastbarkeit, Eisenmangelanämie, Funktionsstörungen des Nervensystems, des Herz-, Kreislauf- und Gefäßsystems, des Stoffwechsel- und Verdauungssystems, des Stütz- und Bewegungssystems und Übergewicht) Tätigkeiten auf dem allgemeinen oder zweiten Arbeitsmarkt voraussichtlich für einen Zeitraum bis zu sechs Monaten nicht zuließen und bei Nichtdurchführung der empfohlenen intensiven und umfänglichen Maßnahmen eine erhebliche Gefährdung der Erwerbs- und Leistungsfähigkeit drohte. Die gutachterliche Stellungnahme der BA vom 8. März 2019 (Bl. 112 GA) gelangte erneut zu der Einschätzung, dass ein tägliches Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden vorliege und verwies auf die im Vorgutachten bereits empfohlenen Maßnahmen sowie darauf, dass eine nochmalige Einschaltung des ärztlichen Dienstes erst sinnvoll sei, wenn diese Maßnahmen durchgeführt worden seien.

    Insofern konnte der Beklagten zwar darin beizupflichten sein, dass nach der Bewertung der beiden Gutachter der BA eine die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erlaubende Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der Klägerin bei Durchführung der empfohlenen Maßnahmen zumindest möglich erschien. Dies vermag aber die Einschätzung der Vorinstanz, dass sich die aus den multiplen Erkrankungen der Klägerin ergebenden Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit nicht innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten beheben ließen, nicht ernsthaft in Frage zu stellen. Zu den in der Stellungnahme vom 6. Oktober 2017 empfohlenen „intensiven und umfänglichen“ Maßnahmen sollten gehören:

    1. zeitnahe Intensivierung der psychologischen, psychosomatischen, psychiatrischen Mitbehandlung,
    2. verstärkte Wiederaufnahme neurologischer, HNO-fachärztlicher, rheumatologischer und orthopädischer Konsultationen,
    3. Einleitung einer multimodalen Schmerztherapie,
    4. Verordnung physiotherapeutischer Maßnahmen,
    5. Beantragung einer stationären medizinischen Reha-Maßnahme nach Abschluss der noch erforderlichen Therapien,
    6. deutliche Reduzierung des Körpergewichts.

    Es erschien dem VG bereits fraglich, wie dieses von der BA empfohlene „Programm“ innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten von der Klägerin überhaupt hätte bewältigt werden können. Unabhängig davon hatte das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf Kommentarliteratur die Auffassung vertreten, dass die Verweigerung einer Behandlung nicht dazu führe, dass eine Gesundheitsstörung nicht als Erkrankung im Sinne von § 43 SGB VI anzusehen wäre und es der Klägerin darüber hinaus nicht zumutbar sei, eine riskante Operation am Gehirn vornehmen zu lassen, um unter gewissen unsicheren Umständen danach vielleicht wieder leistungsfähiger zu sein; dies sei vielmehr eine zutiefst persönliche Entscheidung der Klägerin, die ihr die Beklagte nicht abverlangen könne. Dem war die Beklagte nicht substantiiert entgegengetreten.

    Es liege keine länger als sechs Monate dauernde Erwerbsunfähigkeit vor

    Für eine länger als sechs Monate dauernde Erwerbsunfähigkeit der Klägerin sprachen auch die weiteren ärztlichen Stellungnahmen. Nach dem Attest der Fachärzte für Innere Medizin/Endokrinologie/Diab. Dr. Sch. und Dr. W. vom 18. Juli 2019 war eine relevante Erwerbsfähigkeit bei der Klägerin nicht mehr gegeben. Nach dem Attest des Facharztes für Innere Medizin/Rheumatologie Dipl.-Med. B. vom 19. Juli 2019 befand sich die Klägerin bei diesem Arzt seit 2014 in Behandlung. Die Klägerin sei durch rheumatoide Arthritis und vor allem durch die zusätzlichen Erkrankungen stark eingeschränkt gewesen, aus diesem Grund stets auf Hilfe angewiesen und nicht mehr arbeitsfähig. Die immunsuppressive Therapie erfolgte gegenwärtig mit Leflunomid. Mehrere stationäre Behandlungen im Fachkrankenhaus für Rheumatologie in V. seien erfolgt, zuletzt im November 2018. Der weitere Erkrankungsverlauf war nicht vorhersagbar. Nach dem Attest der Fachärzte für Innere Medizin/Endokrinologie/Diab. Dr. Sch. und Dr. W. vom 22. August 2019 befand sich die Klägerin in regelmäßiger rheumatologischer Behandlung. Es erfolgte eine medikamentöse Therapie mit Leflunomid. Die Therapie mit Prednisolon war aufgrund des Risikos der Größenzunahme des Hirntumors beendet worden. Dies führte zu gehäuften Schmerzschüben. Bezüglich des Hirntumors befand sich die Klägerin in neurochirurgischer und neurologischer Kontrolle. Es war bereits zu einer Operation geraten worden. Die Therapie der arteriellen Hypertonie und Hyperlipoproteinämie erfolgte medikamentös und hatte aufgrund rezidivierender Blutdruckschwankungen optimiert werden müssen. Eine kardiologische Vorstellung der Klägerin war vorgesehen, um eine weiterführende Diagnostik bezüglich einer koronaren Herzerkrankung durchzuführen, da wiederholt Dyspnoe- und Angina pectoris-Symptomatik aufgetreten war. Die Anämie sei unter hämatologischer Kontrolle. Die Klägerin war aufgrund der multiplen Erkrankungen nicht arbeitsfähig.

    Jedenfalls in Bezug auf das Erfordernis des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, dass der Ausländer mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens nachweist, griff die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG nicht zugunsten der Klägerin.

    Da das Absehen von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG gemäß
    § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer diese „aus den in Satz 3 genannten Gründen“ nicht erfüllen kann, ist erforderlich, dass die Krankheit oder Behinderung kausal ist für die Unmöglichkeit, den Nachweis der Altersvorsorge zu erbringen (vgl. Marx, in: GK-AufenthG II – § 9 Rn. 258).

    Zutreffend war das Verwaltungsgericht zwar davon ausgegangen, dass maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist. Für die Frage, ob der Ausländer im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen „kann“, kam es aber entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht darauf an, ob der Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung daran gehindert ist, künftig (weitere) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für die private Altersvorsorge zu erbringen, sondern darauf, ob er aufgrund der Erkrankung oder Behinderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen ist, die erforderlichen 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für eine vergleichbare private Altersvorsorge zu leisten.

    Aus der Formulierung im Präsens („erfüllen kann“) mag zwar für die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts deutlich werden, dass die gegenwärtige Situation entscheidend ist bzw. der Zeitpunkt, ab dem die Niederlassungserlaubnis zugesprochen wird, und es insoweit nicht darauf ankommt, ob der Ausländer bereits in der Vergangenheit wegen Krankheit oder Behinderung an der Sicherung des Lebensunterhalts gehindert gewesen ist oder diesen aus anderen Gründen, namentlich wegen Versäumnissen hinsichtlich seiner Erwerbsobliegenheit, nicht gesichert hat (vgl. VG Aachen, Urteil vom 19. März 2014 – 8 K 1398/12 – juris Rn. 45 ff.; Müller, in: Hofmann NK-AuslR, 2. Aufl., § 9 Rn. 13). Auch mag die nach § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG erforderliche Kausalität zwischen der krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit und der fehlenden Unterhaltssicherung nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass der Ausländer in der Vergangenheit ggf. aus anderen Gründen – sei es wegen einer Verletzung der Erwerbsobliegenheit, sei es wegen fehlender Chancen am Arbeitsmarkt, sei es wegen einer bewussten Entscheidung zur Übernahme von Erziehungsaufgaben in der Familie – den Lebensunterhalt nicht sichergestellt hat. Dies lässt sich damit begründen, dass durch den späteren Eintritt der vollen Erwerbsminderung bzw. Erwerbsunfähigkeit wegen Krankheit und Behinderung eine von etwaigen früheren Gründen unabhängige neue Ursachenreihe eröffnet wurde, die den Ursachenzusammenhang zwischen den früheren Gründen und der fehlenden Unterhaltssicherung unterbricht und nunmehr allein ursächlich für die Nichterfüllbarkeit des Erfordernisses der Unterhaltssicherung ist (so VG Aachen, Urteil vom 19. März 2014, a.a.O., Rn. 51). Dafür spricht auch der Umstand, dass bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG eine Prognose darüber anzustellen ist, ob der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 13).

    Auch das Erfordernis der hinreichenden Altersvorsorge erfülle die Klägerin nicht

    Diese Erwägungen lassen sich aber auf das Erfordernis der hinreichenden Altersvorsorge nicht übertragen. Der Ausländer „kann“ die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung) nicht erfüllen, wenn er nicht mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung „geleistet hat“ oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens „nachweist“. Anders als bei dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts ist insoweit keine in die Zukunft gerichtete Prognose anzustellen. Eine Krankheit oder Behinderung ist nur dann kausal für die Unmöglichkeit, den Nachweis der Altersvorsorge zu erbringen, wenn sie den Ausländer bereits vor dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Erlaubnisantrag hinderte, die erforderlichen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen zur privaten Altersvorsorge zu leisten.

    Hiernach konnte im Fall der Klägerin von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht abgesehen werden, weil nicht ersichtlich war, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung gehindert gewesen war, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen, die es ihr ermöglich hätte, die erforderlichen 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten. Jedenfalls nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG am 12. Juni 2008, in der ihr eine Erwerbstätigkeit gestattet wurde, war die Klägerin rechtlich nicht gehindert, eine solche Beschäftigung auszuüben. Dass bei der Klägerin bereits zu diesem Zeitpunkt und in der Folgezeit eine Erkrankung vorlag, die sie daran hinderte, eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen, war nicht erkennbar gewesen. In der sozialmedizinischen Stellungnahme der BA vom 30. Oktober 2013 wurde der Klägerin ungeachtet der bereits zu diesem Zeitpunkt bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für gelegentlich mittelschwere Arbeiten attestiert. Auch nach der sozialmedizinischen Stellungnahme der BA vom 16. Oktober 2015 war die Klägerin noch auf dem ersten allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar, wenn auch mit der Einschränkung, dass sämtliche Tätigkeiten, die in Übereinstimmung mit dem Leistungsbild standen, zumutbar sein sollten. Die Klägerin war noch bis zum 27. März 2015 erwerbstätig. Bei sämtlichen Tätigkeiten seit Gestattung der Erwerbstätigkeit ab Juni 2008 handelte es sich aber nur um geringfügige, nicht versicherungspflichtige Beschäftigungen. Dass sich die Klägerin – insbesondere unmittelbar nach der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG – auch um die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit bemühte, war nicht ersichtlich. Es bestanden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin während des gesamten Zeitraums, in dem sie geringfügig beschäftigt war, bereits so erkrankt war, dass die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nicht in Betracht kam. Von einer langfristigen oder gar dauerhaften Arbeitsunfähigkeit der Klägerin war erst in späteren ärztlichen Stellungnahmen die Rede gewesen, wie etwa im Attest der Fachärzte für innere Medizin Dr. Sch., Dr. Sch., Dr. W. vom 29. März 2016 (Bl. 376 des Verwaltungsvorgangs). Eine andere Beurteilung geboten auch nicht die von der Klägerin im Berufungsverfahren eingereichten ärztlichen Befundberichte. Der Bericht des Universitätsklinikums Magdeburg vom 10. September 2020 setzte die Vorgeschichte der Klägerin als bekannt voraus und befasste sich mit der aktuellen Situation der Klägerin. Die ärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. Sch. äußerte sich zur Krankengeschichte der Klägerin ohne konkrete Zeitangaben und schloss mit der Aussage, dass die Klägerin aufgrund der aufgezählten Erkrankungen nicht arbeitsfähig sei.

    Eine Ausnahme vom Erfordernis der Altersvorsorge in der Person der Klägerin ergab sich auch nicht aus § 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift genügt es bei Ehegatten, die in ehelicher Lebensgemeinschaft leben, wenn die Voraussetzungen nach Absatz 2 Satz 1 Nr. 3, 5 und 6 durch einen Ehegatten erfüllt werden. Dass der Ehemann der Klägerin die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllte, wurde weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

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  2. Sozialrecht: Ausländer aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben nicht grundsätzlich Anspruch auf Sozialleistungen (Hartz 4) in Deutschland

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    Europäischer Gerichtshof, 11.11.2014, Rechtssache C 333/13

    Wir haben an dieser Stelle bereits mehrfach über die gesetzlichen Regelungen berichtet, welche den Sozialleistungsbezug von Ausländern zum Gegenstand haben. Damit sind solche Ausländer gemeint, welche sich mit einem deutschen Aufenthaltstitel (z. B. Visum, Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis) in Deutschland befinden.

    Noch kontroverser wird allerdings die Frage diskutiert, ob auch Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Recht haben, Sozialleistungen vom deutschen Staat zu beziehen.

    Gerade in Bezug auf Leistungen des SGB II (Hartz 4) gibt es dafür mit § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II eigentlich eine klare Regelung.

    Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sind nämlich

    – solche Ausländerinnen und Ausländer sowie ihre Familienangehörigen nicht leistungsberechtigt, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

    – sowie Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen nicht leistungsberechtigt, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.

    Ob diese Regelungen allerdings mit dem geltenden EU-Recht konform sind, war bislang noch nicht festgestellt worden. In der oben genannten Rechtssache war diese Frage daher dem Europäischen Gerichtshof in einem sogenannten Vorabentscheidungsverfahren vorgelegt worden.

    Sachverhalt: Die Klägerin in diesem Rechtsstreit ist rumänische Staatsangehörige, welche seit mehreren Jahren mit ihrem in Deutschland geborenen minderjährigen Sohn bei ihrer Schwester in Leipzig leben.

    Sie und ihr Sohn beziehen bereits Kindergeld i. H. v. EUR 184 und Unterhaltsvorschuss i. H. v. EUR 133. Während ihrer Zeit in Deutschland arbeitete die Klägerin nicht und zeigte auch keine Bemühungen, eine Arbeit zu finden. Auch in Rumänien war die Klägerin nicht erwerbstätig gewesen.

    Um weitere Leistungen zu erhalten, stellte die Klägerin beim zuständigen Jobcenter in Leipzig Antrag auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz 4). Das Jobcenter verweigerte die Leistungen allerdings unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II.

    Da sich die Klägerin mit dieser Entscheidung nicht zufrieden geben wollte, klagte sie vor dem Sozialgericht Leipzig. Das Sozialgericht Leipzig folgte zwar der Ansicht des Jobcenters, gab aber zu Bedenken, dass eventuell EU-rechtliche Bestimmungen der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II entgegen stehen könnten und legte diese Frage Art. 234 EGV dem Europäischen Gerichtshof daher zur Vorabentscheidung vor.

    Vor der endgültigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes befasste sich der Generalanwalt Melchior Wathelet mit der Fragestellung. In seinen Schlussanträgen vom 20.05.2014 kam der Generalanwalt zu der Ansicht, dass Rechtsvorschriften, die Leistungen der Grundsicherung solchen Personen verweigern, die weit davon entfernt sind, sich in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, und einzig und allein mit dem Ziel nach Deutschland kommen, Nutzen aus dem deutschen Sozialhilfesystem zu ziehen, im Einklang mit dem Willen des Unionsgesetzgebers stünden.

    Denn mit derartigen Rechtsvorschriften könne verhindert werden, dass Personen, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen würden, ohne sich integrieren zu wollen, zu eine Belastung für das Sozialhilfesystem werden.

    Da die Schlussanträge des Generalanwalts für den Europäischen Gerichtshof allerdings nicht bindend sind, sondern nur einen Entscheidungsvorschlag darstellen, bildet die heutige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die endgültige Vorabentscheidung.

    Europäischer Gerichtshof: Der Europäische Gerichtshof hat nun entschieden, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Sozialleistungen (wie den deutschen Leistungen der Grundsicherung) nur verlangen könnten, wenn ihr Aufenthalt die Voraussetzungen der „Unionsbürgerrichtlinie“ erfülle.

    Insofern sei der Aufnahmemitgliedstaat nach der Richtlinie nicht verpflichtet, während der ersten drei Monate des Aufenthalts Sozialhilfe zu gewähren.

    Bei einer Aufenthaltsdauer von mehr als drei Monaten, aber weniger als fünf Jahren (wie im vorliegenden Fall), mache die Richtlinie das Aufenthaltsrecht u. a. davon abhängig, dass nicht erwerbstätige Personen über ausreichende eigene Existenzmittel verfügen.

    Damit solle verhindert werden, dass nicht erwerbstätige Unionsbürger das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen würden.

    Somit müsse ein Mitgliedstaat die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen würden, in den Genuss der Sozialhilfe eines Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen würden, Sozialleistungen versagen zu können; insoweit sei jeder Einzelfall zu prüfen, ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen.

    Die Unionsbürgerrichtlinie und die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit stünden somit einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ ausschließe, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie zustünde.

    Wichtiger Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrages ist nach bestem Wissen und Kenntnisstand erstellt worden. Die Komplexität und der ständige Wandel der behandelten Materie machen es jedoch erforderlich, Haftung und Gewähr auszuschließen.

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