Pflegestufe II Voraussetzungen Archive - MTH Rechtsanwälte Köln
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Tag Archive: Pflegestufe II Voraussetzungen

  1. Sozialrecht: Leistungen der Pflegestufe III müssen auch bei geringfügiger Unterschreitung des notwendigen Pflegeaufwandes gewährt werden.

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    Sozialgericht Münster, 10.02.2012, Az.: S 6 P 135/10

    Die Gewährung von Leistungen aus der Pflegekasse richtet sich nach der Einstufung in einer der drei Pflegestufen. Die Pflegestufe wird vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) festgelegt.

    Gesetzlich geregelt ist die Einordnung in die Pflegestufen in § 15 SGB XI:

    Gemäß § 15 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftige Personen einer der folgenden drei Pflegestufen zuzuordnen:

    1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

    2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

    3. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

    Gem. § 15 Abs. 3 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt

    1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen,

    2. in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden (180 Minuten) betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden (120 Minuten) entfallen,

    3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden (300 Minuten) betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden (240 Minuten) entfallen.

    In der oben genannten Entscheidung des Sozialgerichts Münster hatte das Gericht darüber zu entscheiden, ob die beklagte Pflegekasse dem versicherten Kläger Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren hatte, obwohl der festgestellte Grundpflegebedarf bei lediglich 234 Minuten lag.

    Sachverhalt:

    Der 1947 geborene, bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger hatte im Oktober 2002 einen Schlaganfall erlitten, welcher eine leicht spastische Hemiparese mit einer Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes zur Folge hatte.

    Mit Unterstützung war er in der Lage zu gehen. Als gravierendste Folge eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus war der Kläger vor einigen Jahren erblindet. Neben weiteren Erkrankungen lagen kognitive Störungen und ein depressives Syndrom vor.

    Nach dem Schwerbehindertenrecht war ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt. Die Merkzeichen „Bl.“, „G“, „B“ und „RF“ waren zuerkannt. Der Kläger wurde im Wesentlichen von seiner Ehefrau pflegerisch versorgt.

    Seit März 2003 bezog der Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Grundlage dieser Bewilligung war das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) der beklagten Pflegekasse vom 4. April 2003, in dem ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 137 Minuten ermittelt worden war.

    Einen Höherstufungsantrag vom Oktober 2003 hatte die beklagte Pflegekasse abgelehnt, nachdem ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 218 Minuten errechnet worden war.

    In einem von der Beklagten veranlassten Wiederholungsgutachten des SMD vom 21. August 2009 schätzte ein Gutachter den Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege auf 211 Minuten ein.

    Am 7. Januar 2010 stellte der Kläger einen neuen Höherstufungsantrag, in welchem ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 216 Minuten angenommen wurde.

    Gegen den darauf erfolgten Ablehnungsbescheid legte der Kläger Widerspruch unter Vorlage eines Pflegetagebuchs ein. Auch diese Maßnahme hatte keinen Erfolg.

    Sozialgericht Münster:

    Das Gericht erhob zunächst Beweis durch Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der tägliche Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege auf 232 Minuten zu beziffern sei.

    Anschließend entschied das Gericht im Sinne des Klägers, da der Kläger nach Ansicht des Gerichts durch die Ablehnungsbescheide unzulässig beschwert worden sei.

    Im Falle des Klägers sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten.

    Nach dieser Vorschrift sei ein Dauerverwaltungsakt (also in diesem Falle der Verwaltungsakt, welcher die Gewährung von Mitteln nach Pflegestufe II zur Folge hatte) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten sei.

    Im Vergleich zu den Verhältnissen im Jahre 2003, als dem Kläger erstmals Leistungen der Pflegestufe II bewilligt worden waren, sei durch seine inzwischen eingetretene vollständige Erblindung eine so erhebliche Zunahme der Pflegebedürftigkeit eingetreten, dass nunmehr die gesetzlichen Voraussetzungen der Schwerstpflegebedürftigkeit erfüllt seien.

    Schwerstpflegebedürftige (Pflegestufe III) seien nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches – Elftes Buch – (SGB XI) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürften und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigten.
    Diese Voraussetzungen lägen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Falle des Klägers vor. Das sei zwischen dem Kläger und der beklagten Pflegekasse auch nicht streitig.

    Umstritten sei lediglich noch die Frage, ob auch der in § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI geregelte, zeitliche Mindestpflegeaufwand erreicht werde.

    Nach dieser Bestimmung müsse der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung benötige, „wöchentlich im Tagesdurchschnitt“ in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden, also 240 Minuten, betragen. Hierbei müsse auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

    Zwar verweise die Beklagte rechnerisch zutreffend darauf, dass mit dem von dem Sachverständigen ermittelten grundpflegerischen Hilfebedarf von 232 Minuten der erforderliche Mindestbedarf von 240 Minuten um 8 Minuten unterschritten werde.

    Gleichwohl sei die Kammer davon überzeugt, dass die gesetzliche Anspruchsvoraussetzung einer mindestens vierstündigen täglichen Grundpflege im Falle des Klägers erfüllt sei.

    Die Kammer habe das Gutachten des erfahrenen gerichtlichen Sachverständigen einer kritischen Prüfung unterzogen.

    Dabei habe sie keinen Anlass gesehen, von den Einschätzungen dieses Zeitaufwands bei den einzelnen Verrichtungen abzuweichen.

    Nach Ansicht des Gerichts sei im Falle des Klägers die Annahme der Schwerstpflegebedürftigkeit aber schon bei dem vom Sachverständigen ermittelten grundpflegerischen Hilfebedarf von 232 Minuten gerechtfertigt.

    Das Unterschreiten der zeitlichen Schnittstelle um wenige Minuten könne der Zuerkennung der Pflegestufe III nicht entgegenstehen.

    Die Überzeugung der Kammer folge aus einer dem Wortlaut des Gesetzes berücksichtigenden Auslegung, der Beachtung der Auslegungsregeln des § 2 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches – Erstes Buch – (SGB I), einer den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) in den Blick nehmenden verfassungskonformen Auslegung und einer Berücksichtigung der Unzulänglichkeiten des geltenden gesetzlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.

    Die Vorschrift des § 15 Abs. 2 Satz 1 SGB XI formuliere die zeitlichen Eintrittsstellen für die jeweiligen Pflegestufen sprachlich unterschiedlich.

    Die Pflegestufe I setze einen grundpflegerischen Hilfebedarf von „mehr als 45 Minuten“ voraus, bei den Pflegestufen II und III reiche es aus, wenn auf die Grundpflege „mindestens zwei“ bzw. „mindestens vier Stunden“ entfallen.

    Schon aus diesen unterschiedlichen Formulierungen des Gesetzes sei abzuleiten, dass die Schwelle zu den höheren Pflegestufen nicht so streng gefasst sei wie bei der Pflegestufe I.

    Aber auch die allgemeine Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 SGB I spreche dafür, dass der Leistungsanspruch im Falle des Klägers nicht an wenigen Minuten scheitern könne.

    Nach dieser Vorschrift sei nämlich bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen, dass die Sozialrechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

    Ferner stütze sich die Kammer auf das Auslegungskriterium der Verfassungskonformität.

    Es sei mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes und dem Gerechtigkeitsgedanken nur schwer vereinbar, wenn aufgrund des Unterschreitens des Mindestzeitaufwandes um nur wenige Minuten die im Vergleich zur Pflegestufe II wesentlich höheren Leistungen der Pflegestufe III nicht beansprucht werden könnten.

    Denn es sei zu beachten, dass bei Leistungsbeziehern der Pflegestufe III die zeitliche Mindestvoraussetzung wegen der besonders strengen Anspruchsvoraussetzungen nach den Er-fahrungen der Kammer in den meisten der Fälle nur um wenige Minuten überschritten werde.

    In diesem Zusammenhang sei auch die enorme zeitliche Spanne von 120 Minuten nicht außer Acht zu lassen, die nach der gesetzlichen Regelung die Eintrittsschwellen der Pflegestufen II und III trenne.

    Entscheidende Erwägung für die Kammer sei schließlich jedoch, dass es sich bei dem von dem Sachverständigen gefundenen Ergebnis eines grundpflegerischen Hilfebedarfs von 232 Minuten im Wesentlichen lediglich nur um eine scheinrationale Größe handeln würde.

    Ließe sich der nach dem Gesetz berücksichtigungsfähige Aufwand chronometrisch präzise be-messen, könne das Scheitern eines Leistungsanspruchs wegen eines sehr geringfügigen Unterschreitens einer zeitlichen Schnittstelle möglicherweise gerechtfertigt sein.

    Bei dem geltenden gesetzlichen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem mit ihm verknüpften Bemessungsfaktor Zeit handele es sich aber nicht um sicher fassbare und rationale Kriterien.

    Zunächst sei festzustellen, dass schon wegen der – pflegerisch nicht gerechtfertigten – Beschränkung auf den gesetzlichen Verrichtungskatalog und die Nichtberücksichtigung von Behandlungspflege und Aufsichts- und Betreuungsbedarf die Bedarfsgerechtigkeit des Einstufungssystems erheblich infrage gestellt sei.

    Zudem begegne die Ermittlung der Zeitdauer der berücksichtigungsfähigen Pflegemaßnahmen ganz gravierenden Schwierigkeiten.

    Unter Beachtung der individuellen Pflegesituation, der individuellen Lebensgewohnheiten der Pflegebedürftigen und der unterschiedlichen Hilfeformen (Anleitung, Beaufsichtigung, Teilübernahmen etc.) solle nach einem fiktiven, objektiven Maßstab der Zeitaufwand bei den Katalogverrichtungen bemessen werden. Dies sei mit einer Stoppuhr nicht zu leisten.

    In der Pflegewissenschaft und in der Pflegepraxis werde seit vielen Jahren einhellig die Reform des gesetzlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffs gefordert. So hieße es etwa in dem vom Bundesministerium für Gesundheit herausgegebenen Bericht des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom 26. Januar 2009 treffend, „dass der Faktor Zeit mit dem Stichwort Minutenpflege zu einem die gesamte Pflegeversicherung desavouierenden Begriff“ (S. 45 des Berichts) geworden sei.

    Das Bundessozialgericht habe in seinem Urteil vom 7. Juli 2005 (Az.: B 3 P 8/04 R) in einer Streitsache, bei der es um die Entziehung von Leistungen der Pflegeversicherung ging, ausgeführt, dass eine Schätzung des Pflegebedarfs im Rahmen einer Leistungsüberprüfung, die ein Unter-schreiten des erforderlichen Pflegebedarfs um nur wenige Minuten ergeben habe, für die Pflegekasse in der Regel keinen hinreichenden Grund darstelle, die Leistung zu mindern bzw. einzustellen, schon weil die Unsicherheit der Schätzung nicht die verlässliche Feststellung erlaube, dass der erforderliche Pflegebedarf der jeweiligen Pflegestufe nicht mehr vorläge.

    Des Weiteren habe das BSG die Auffassung vertreten, dass es rechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn Gutachter und Pflegekraft im Grenzfall einen großzügigen Maßstab anwenden und den Leistungsanspruch nicht an wenigen Minuten scheitern lassen.

    Dieser Rechtsprechung stimme die Kammer zu. Darüber hinaus sei sie der Überzeugung, dass wegen der erheblichen Unsicherheit der Schätzung ein großzügiger Maßstab im Grenzfall nicht nur nicht zu beanstanden sei, sondern dass bei einer Schätzung durch einen gerichtlichen Sachverständigen, nach der die Schwelle zur Pflegestufe III nur um wenige Minuten verfehlt werde, es geboten sein könne, eine Korrektur der Einschätzung vorzunehmen.

    Im Falle des Klägers habe der gerichtliche Sachverständige durch Einschätzungen des Zeitaufwands bei zahlreichen Verrichtungen der Grundpflege in der Summe einen Zeitaufwand von 232 Minuten ermittelt.

    Die Kammer sähe keinen Anlass und keine Möglichkeit, von den jeweiligen Einschätzungen abzuweichen.

    Im Rahmen ihrer freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) sei sie aber zu der zusammenfassenden Einschätzung gelangt, dass dieser Zeitaufwand die gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen einer vierstündigen Grundpflege bereits erfüllen würde und dem Kläger die Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit zustünden.

    Quelle: Sozialgericht Münster

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