Rechtsanwalt Köln Krankenversicherungsrecht Archive - MTH Rechtsanwälte Köln
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Tag Archive: Rechtsanwalt Köln Krankenversicherungsrecht

  1. Krankenversicherungsrecht: Verweigerung der Pflichtversicherung durch die gesetzliche Krankenkasse wegen Vorrangs des SGB XII

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    Sozialgericht Oldenburg, 05.09.2011, Az.: S 61 KR 151/11

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    Diejenigen Tatbestände, welche die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung auslösen, sind in § 5 SGB V aufgezählt. Zu dem Kreis der pflichtversicherten Personen gehören unter Anderem Arbeiter, Angestellte oder Studenten sowie Bezieher bestimmter Sozialleistungen.

    Ebenfalls pflichtversichert sind gem. § 5 SGB V solche Menschen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Sicherung im Krankheitsfall haben.

    Bei Versicherungspflichtigen beginnt die Mitgliedschaft mit dem Tage, an dem die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht erfüllt sind, § 186 SGB V.

    Bei Arbeitern, Angestellten oder Auszubildenden ist dies also Tag des Eintritts in die versicherungspflichtige Beschäftigung.

    Im Fall des freiwilligen Beitritts zur gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 9 SGB V beginnt die Mitgliedschaft gem. § 188 Abs. 1, 3 SGB V grundsätzlich mit dem Tage des Beitritts, also der schriftlichen Anmeldung bei der Krankenkasse.

    Wenn der bisher Pflichtversicherte sich freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung weiter versichern möchte, weil die Versicherungspflicht aus irgendeinem Grund entfallen ist, (sogenannte Weiterversicherung) schließt sich die freiwillige Mitgliedschaft gem. § 188 Abs. 2 SGB V unmittelbar an das Ende der vorherigen Pflichtversicherung an.

    Das bedeutet, dass auch die Beitragspflicht (§§ 223 Abs. 1, 240 SGB V unmittelbar einsetzt. Es wird damit verhindert, dass Versicherungsberechtigte die dreimonatige Erklärungsfrist des § 9 Abs. 2 SGB V alleine deshalb bis zum Ende ausnutzen, um Beiträge zu sparen.

    Oftmals kommt es auch vor, dass sich gesetzliche Krankenversicherungen weigern, bestimmte Personen zu versichern.

    Sollten Sie ein sozialrechtliches Problem haben oder von Ihrer Krankenkasse benachteiligt worden sein, unterstützen wir Sie gerne bei der Durchsetzung Ihrer Interessen. Für ein Angebot senden Sie uns gerne eine Email an info@mth-partner.de oder rufen uns an unter 0221 – 80187670

    In dem oben genannten Fall des Sozialgerichts Oldenburg hatte dieses darüber zu entscheiden, ob die Klägerin pflichtversichert in der gesetzlichen Krankenversicherung war oder ob die Klägerin Hilfe zur Gesundheit im Rahmen Ihres Bezuges von SGB XII hätte erhalten müssen.

    Sachverhalt: Die 1959 geborene Klägerin erhielt Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

    Da die Klägerin ihre eigenen Angelegenheiten nicht mehr selber regeln konnte, wurde für sie ein gesetzlicher Betreuer bestellt, der unter anderem die Aufgabenkreise Gesundheitssorge sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten inne hatte.

    Im Zusammenhang mit der Grundsicherung der Stadt erhielt die Klägerin bisher ebenfalls Hilfe zur Gesundheit. Dahingehend übernahm die Stadt E die Behandlungskosten und nahm in der Folge die Eltern der Klägerin gem. 94 Abs. 1 SGB XII aus übergegangenem Recht in Anspruch.

    Nachdem die Eltern der Klägerin sich gegenüber der Stadt E. schließlich bereit erklärt hatten, für den Lebensunterhalt der Klägerin ab dem 01.11.2010 aufzukommen, stellte die Stadt E. die Sozialhilfeleistungen mit Bescheid vom 07.10.2010 ab dem 01.11.2010 ein.

    Daraufhin beantragte die Klägerin daraufhin am 18.10.2010 bei der Beklagten die Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung.

    Am 10.11.2010 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Grundsicherung im Alter und Erwerbsminderung nach dem SGB XII bei dem Sozialhilfeträger.

    Dazu führten die Eltern der Klägerin zur Begründung aus, dass sich die finanzielle Situation der Familie durch die erhöhte Pflegebedürftigkeit des Vaters unerwartet verschlechtert habe und die Tochter daher nicht mehr unterstützt werden könne.

    Dementsprechend erhielt die Klägerin seit dem 01.12.2010 wieder Grundsicherungsleistungen.

    Die beklagte Krankenkasse lehnte den Antrag auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung mit Bescheid vom 16.02.2011 ab.

    Sie vertrat die Ansicht, dass die Klägerin durch die Unterbrechung des Bezuges von Grundsicherungsleistungen nicht pflichtversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung geworden sei.

    Es liege gem. § 5 Abs. 8a Satz 2 und 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) eine unverhältnismäßig kurze Unterbrechung des Bezugs der Grundsicherungsleistungen vor.

    Diese Norm diene dem Erhalt des Vorrangs der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers für die Erbringung von Hilfen zur Gesundheit und dieser Vorrang solle nicht unterlaufen werden.

    Am 16.03.2011 legte die Klägerin gegen die Weigerung der Krankenkasse Widerspruch ein.

    Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, dass es nicht nachvollziehbar sei, warum die Eltern der Klägerin bei unveränderten Einkommensverhältnissen, die Klägerin für genau einen Monat hätten unterhalten können.

    Nach Ansicht der Beklagten erwecke dieser Sachverhalt insofern den Anschein, gesteuert zu sein, um durch eine kurzzeitige Leistungsunterbrechung krankenversicherungspflichtig zu werden und fortan den Vorrang der Krankenhilfe durch den Sozialhilfeträger zu unterlaufen. Dies entspreche nicht dem Sinn und Zweck der Versicherungspflicht.

    Am 10.06.2011 erhob die Klägerin, vertreten durch ihren Betreuer, Klage beim Sozialgericht Oldenburg.

    Sozialgericht Oldenburg: Das SG Oldenburg folgte der Ansicht der Klägerin und urteilte, dass die Beklagte verpflichtet sei, zu Gunsten der Klägerin die Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V durchzuführen.

    Nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V seien Personen versicherungspflichtig, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren.

    Diese Voraussetzungen lägen bei der Klägerin vor. Sie habe bis zum November 2010 im Falle einer Krankheit Schutz durch die Hilfe zur Gesundheit im Zusammenhang mit den Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung des Sozialamtes nach §§ 41 ff. SGB XII gehabt. Dieser Schutz sei mit Aufhebung der Grundsicherungsleistungen zum 01.11.2010 weggefallen.

    Da die Klägerin fortan ohne Krankenversicherungsschutz gewesen sei, greife die Pflichtversicherung des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung.

    Für die Pflegeversicherung gelte dies entsprechend. Denn Versicherungspflichtig in der sozialen Pflegeversicherung seien nach § 20 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) die versicherungspflichtigen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung.

    Dazu gehörten gem. § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB XI ausdrücklich auch die nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V versicherungspflichtigen.

    Auch der Ausschlusstatbestand des § 5 Abs. 8a S. 2 SGB V greife hier nicht. Danach sei nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht versicherungspflichtig, (…) wer Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des Zwölften Buches sei. Die Klägerin sei aber im November 2010 nicht mehr Empfängerin von Sozialhilfeleistungen gewesen.

    Auch der Ausschlusstatbestand des § 5 Abs. 8a S. 3 SGB V führe zu keinem anderen Ergebnis. Danach sei eine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ausgeschlossen, wenn der Anspruch auf diese Leistungen nach dem SGB XII für weniger als einen Monat unterbrochen werde.

    Dieser Ausschlussgrund, bei dem die Versicherungspflicht der Klägerin entfallen würde, sei hier nicht erfüllt. Denn der Bezug von Grundsicherungsleistungen sei vorliegend für einen vollen Monat (den Monat November 2010) unterbrochen worden, nicht für „weniger als einen Monat“, wie in der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 8a S. 3 SGB V ausdrücklich gefordert sei.

    Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes trete im Falle einer Unterbrechung von mindestens einem Monat die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ein.

    Auch für eine erweiternde Auslegung des § 5 Abs. 8a SGB V bestünde hier kein Anlass.

    Quelle: Sozialgericht Oldenburg

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  2. Sozialrecht: Leistungen der Pflegestufe III müssen auch bei geringfügiger Unterschreitung des notwendigen Pflegeaufwandes gewährt werden.

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    Sozialgericht Münster, 10.02.2012, Az.: S 6 P 135/10

    Die Gewährung von Leistungen aus der Pflegekasse richtet sich nach der Einstufung in einer der drei Pflegestufen. Die Pflegestufe wird vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) festgelegt.

    Gesetzlich geregelt ist die Einordnung in die Pflegestufen in § 15 SGB XI:

    Gemäß § 15 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftige Personen einer der folgenden drei Pflegestufen zuzuordnen:

    1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

    2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

    3. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

    Gem. § 15 Abs. 3 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt

    1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen,

    2. in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden (180 Minuten) betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden (120 Minuten) entfallen,

    3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden (300 Minuten) betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden (240 Minuten) entfallen.

    In der oben genannten Entscheidung des Sozialgerichts Münster hatte das Gericht darüber zu entscheiden, ob die beklagte Pflegekasse dem versicherten Kläger Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren hatte, obwohl der festgestellte Grundpflegebedarf bei lediglich 234 Minuten lag.

    Sachverhalt:

    Der 1947 geborene, bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger hatte im Oktober 2002 einen Schlaganfall erlitten, welcher eine leicht spastische Hemiparese mit einer Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes zur Folge hatte.

    Mit Unterstützung war er in der Lage zu gehen. Als gravierendste Folge eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus war der Kläger vor einigen Jahren erblindet. Neben weiteren Erkrankungen lagen kognitive Störungen und ein depressives Syndrom vor.

    Nach dem Schwerbehindertenrecht war ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt. Die Merkzeichen „Bl.“, „G“, „B“ und „RF“ waren zuerkannt. Der Kläger wurde im Wesentlichen von seiner Ehefrau pflegerisch versorgt.

    Seit März 2003 bezog der Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Grundlage dieser Bewilligung war das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) der beklagten Pflegekasse vom 4. April 2003, in dem ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 137 Minuten ermittelt worden war.

    Einen Höherstufungsantrag vom Oktober 2003 hatte die beklagte Pflegekasse abgelehnt, nachdem ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 218 Minuten errechnet worden war.

    In einem von der Beklagten veranlassten Wiederholungsgutachten des SMD vom 21. August 2009 schätzte ein Gutachter den Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege auf 211 Minuten ein.

    Am 7. Januar 2010 stellte der Kläger einen neuen Höherstufungsantrag, in welchem ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 216 Minuten angenommen wurde.

    Gegen den darauf erfolgten Ablehnungsbescheid legte der Kläger Widerspruch unter Vorlage eines Pflegetagebuchs ein. Auch diese Maßnahme hatte keinen Erfolg.

    Sozialgericht Münster:

    Das Gericht erhob zunächst Beweis durch Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der tägliche Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege auf 232 Minuten zu beziffern sei.

    Anschließend entschied das Gericht im Sinne des Klägers, da der Kläger nach Ansicht des Gerichts durch die Ablehnungsbescheide unzulässig beschwert worden sei.

    Im Falle des Klägers sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten.

    Nach dieser Vorschrift sei ein Dauerverwaltungsakt (also in diesem Falle der Verwaltungsakt, welcher die Gewährung von Mitteln nach Pflegestufe II zur Folge hatte) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten sei.

    Im Vergleich zu den Verhältnissen im Jahre 2003, als dem Kläger erstmals Leistungen der Pflegestufe II bewilligt worden waren, sei durch seine inzwischen eingetretene vollständige Erblindung eine so erhebliche Zunahme der Pflegebedürftigkeit eingetreten, dass nunmehr die gesetzlichen Voraussetzungen der Schwerstpflegebedürftigkeit erfüllt seien.

    Schwerstpflegebedürftige (Pflegestufe III) seien nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches – Elftes Buch – (SGB XI) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürften und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigten.
    Diese Voraussetzungen lägen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Falle des Klägers vor. Das sei zwischen dem Kläger und der beklagten Pflegekasse auch nicht streitig.

    Umstritten sei lediglich noch die Frage, ob auch der in § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI geregelte, zeitliche Mindestpflegeaufwand erreicht werde.

    Nach dieser Bestimmung müsse der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung benötige, „wöchentlich im Tagesdurchschnitt“ in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden, also 240 Minuten, betragen. Hierbei müsse auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

    Zwar verweise die Beklagte rechnerisch zutreffend darauf, dass mit dem von dem Sachverständigen ermittelten grundpflegerischen Hilfebedarf von 232 Minuten der erforderliche Mindestbedarf von 240 Minuten um 8 Minuten unterschritten werde.

    Gleichwohl sei die Kammer davon überzeugt, dass die gesetzliche Anspruchsvoraussetzung einer mindestens vierstündigen täglichen Grundpflege im Falle des Klägers erfüllt sei.

    Die Kammer habe das Gutachten des erfahrenen gerichtlichen Sachverständigen einer kritischen Prüfung unterzogen.

    Dabei habe sie keinen Anlass gesehen, von den Einschätzungen dieses Zeitaufwands bei den einzelnen Verrichtungen abzuweichen.

    Nach Ansicht des Gerichts sei im Falle des Klägers die Annahme der Schwerstpflegebedürftigkeit aber schon bei dem vom Sachverständigen ermittelten grundpflegerischen Hilfebedarf von 232 Minuten gerechtfertigt.

    Das Unterschreiten der zeitlichen Schnittstelle um wenige Minuten könne der Zuerkennung der Pflegestufe III nicht entgegenstehen.

    Die Überzeugung der Kammer folge aus einer dem Wortlaut des Gesetzes berücksichtigenden Auslegung, der Beachtung der Auslegungsregeln des § 2 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches – Erstes Buch – (SGB I), einer den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) in den Blick nehmenden verfassungskonformen Auslegung und einer Berücksichtigung der Unzulänglichkeiten des geltenden gesetzlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.

    Die Vorschrift des § 15 Abs. 2 Satz 1 SGB XI formuliere die zeitlichen Eintrittsstellen für die jeweiligen Pflegestufen sprachlich unterschiedlich.

    Die Pflegestufe I setze einen grundpflegerischen Hilfebedarf von „mehr als 45 Minuten“ voraus, bei den Pflegestufen II und III reiche es aus, wenn auf die Grundpflege „mindestens zwei“ bzw. „mindestens vier Stunden“ entfallen.

    Schon aus diesen unterschiedlichen Formulierungen des Gesetzes sei abzuleiten, dass die Schwelle zu den höheren Pflegestufen nicht so streng gefasst sei wie bei der Pflegestufe I.

    Aber auch die allgemeine Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 SGB I spreche dafür, dass der Leistungsanspruch im Falle des Klägers nicht an wenigen Minuten scheitern könne.

    Nach dieser Vorschrift sei nämlich bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen, dass die Sozialrechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

    Ferner stütze sich die Kammer auf das Auslegungskriterium der Verfassungskonformität.

    Es sei mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes und dem Gerechtigkeitsgedanken nur schwer vereinbar, wenn aufgrund des Unterschreitens des Mindestzeitaufwandes um nur wenige Minuten die im Vergleich zur Pflegestufe II wesentlich höheren Leistungen der Pflegestufe III nicht beansprucht werden könnten.

    Denn es sei zu beachten, dass bei Leistungsbeziehern der Pflegestufe III die zeitliche Mindestvoraussetzung wegen der besonders strengen Anspruchsvoraussetzungen nach den Er-fahrungen der Kammer in den meisten der Fälle nur um wenige Minuten überschritten werde.

    In diesem Zusammenhang sei auch die enorme zeitliche Spanne von 120 Minuten nicht außer Acht zu lassen, die nach der gesetzlichen Regelung die Eintrittsschwellen der Pflegestufen II und III trenne.

    Entscheidende Erwägung für die Kammer sei schließlich jedoch, dass es sich bei dem von dem Sachverständigen gefundenen Ergebnis eines grundpflegerischen Hilfebedarfs von 232 Minuten im Wesentlichen lediglich nur um eine scheinrationale Größe handeln würde.

    Ließe sich der nach dem Gesetz berücksichtigungsfähige Aufwand chronometrisch präzise be-messen, könne das Scheitern eines Leistungsanspruchs wegen eines sehr geringfügigen Unterschreitens einer zeitlichen Schnittstelle möglicherweise gerechtfertigt sein.

    Bei dem geltenden gesetzlichen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem mit ihm verknüpften Bemessungsfaktor Zeit handele es sich aber nicht um sicher fassbare und rationale Kriterien.

    Zunächst sei festzustellen, dass schon wegen der – pflegerisch nicht gerechtfertigten – Beschränkung auf den gesetzlichen Verrichtungskatalog und die Nichtberücksichtigung von Behandlungspflege und Aufsichts- und Betreuungsbedarf die Bedarfsgerechtigkeit des Einstufungssystems erheblich infrage gestellt sei.

    Zudem begegne die Ermittlung der Zeitdauer der berücksichtigungsfähigen Pflegemaßnahmen ganz gravierenden Schwierigkeiten.

    Unter Beachtung der individuellen Pflegesituation, der individuellen Lebensgewohnheiten der Pflegebedürftigen und der unterschiedlichen Hilfeformen (Anleitung, Beaufsichtigung, Teilübernahmen etc.) solle nach einem fiktiven, objektiven Maßstab der Zeitaufwand bei den Katalogverrichtungen bemessen werden. Dies sei mit einer Stoppuhr nicht zu leisten.

    In der Pflegewissenschaft und in der Pflegepraxis werde seit vielen Jahren einhellig die Reform des gesetzlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffs gefordert. So hieße es etwa in dem vom Bundesministerium für Gesundheit herausgegebenen Bericht des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom 26. Januar 2009 treffend, „dass der Faktor Zeit mit dem Stichwort Minutenpflege zu einem die gesamte Pflegeversicherung desavouierenden Begriff“ (S. 45 des Berichts) geworden sei.

    Das Bundessozialgericht habe in seinem Urteil vom 7. Juli 2005 (Az.: B 3 P 8/04 R) in einer Streitsache, bei der es um die Entziehung von Leistungen der Pflegeversicherung ging, ausgeführt, dass eine Schätzung des Pflegebedarfs im Rahmen einer Leistungsüberprüfung, die ein Unter-schreiten des erforderlichen Pflegebedarfs um nur wenige Minuten ergeben habe, für die Pflegekasse in der Regel keinen hinreichenden Grund darstelle, die Leistung zu mindern bzw. einzustellen, schon weil die Unsicherheit der Schätzung nicht die verlässliche Feststellung erlaube, dass der erforderliche Pflegebedarf der jeweiligen Pflegestufe nicht mehr vorläge.

    Des Weiteren habe das BSG die Auffassung vertreten, dass es rechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn Gutachter und Pflegekraft im Grenzfall einen großzügigen Maßstab anwenden und den Leistungsanspruch nicht an wenigen Minuten scheitern lassen.

    Dieser Rechtsprechung stimme die Kammer zu. Darüber hinaus sei sie der Überzeugung, dass wegen der erheblichen Unsicherheit der Schätzung ein großzügiger Maßstab im Grenzfall nicht nur nicht zu beanstanden sei, sondern dass bei einer Schätzung durch einen gerichtlichen Sachverständigen, nach der die Schwelle zur Pflegestufe III nur um wenige Minuten verfehlt werde, es geboten sein könne, eine Korrektur der Einschätzung vorzunehmen.

    Im Falle des Klägers habe der gerichtliche Sachverständige durch Einschätzungen des Zeitaufwands bei zahlreichen Verrichtungen der Grundpflege in der Summe einen Zeitaufwand von 232 Minuten ermittelt.

    Die Kammer sähe keinen Anlass und keine Möglichkeit, von den jeweiligen Einschätzungen abzuweichen.

    Im Rahmen ihrer freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) sei sie aber zu der zusammenfassenden Einschätzung gelangt, dass dieser Zeitaufwand die gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen einer vierstündigen Grundpflege bereits erfüllen würde und dem Kläger die Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit zustünden.

    Quelle: Sozialgericht Münster

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  3. Erbrecht: Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten (Inhalt, Form, etc.)

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    Das Erbrecht sieht verschiedenste gesetzlich geregelte, aber auch durch Richterrecht anerkannte Auskunftsansprüche vor.

    A.) Allgemeines zu erbrechtlichen Auskunftsansprüchen

    I.) Gesetzlich geregelte Auskunftsansprüche

    – Gem. § 2057 BGB besteht zum Beispiel ein Auskunftsanspruch des Miterben bezüglich
    der von einzelnen Miterben erhaltenen Vorempfänge vor.

    – Gem. §§ 1934b, 2314 BGB besteht ein Auskunftsanspruch des erbersatzberechtigten,
    nichtehelichen Kindes gegen die Erben gem. §§ 1934b, 2314 BGB.

    – Gem. § 2027 BGB besteht ein Auskunftsanspruch des Erben gegenüber dem
    Erbschaftsbesitzer.

    – Gem. § 2127 BGB besteht ein Auskunftsanspruch des Nacherben gegenüber
    dem Vorerben.

    – Gem. § 2314 BGB besteht ein Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten gegenüber dem Erben
    über Bestand und Wert des Nachlasses.

    II.) Durch Richterrecht anerkannte Auskunftsansprüche

    – Auskunftsanspruch des nichtehelichen Kindes gegen den Vater wegen der Bemessung
    des Anspruchs auf vorzeitigen Erbausgleich (OLG Nürnberg NJW-RR 1986, 83).

    – Auskunftsanspruch des Nacherben gegen den Vorerben bzw. den Beschenkten wegen Schenkungen des Vorerben an Dritte (BGH NJW 1972, 907 = BGHZ 58, 239).

    – Auskunftsanspruch des ursprünglich aus einem Lebensversicherungsvertrag Bezugsberechtigten gegen den Erben des Versicherungsnehmers wegen etwaiger Änderung des Bezugsrechts.

    – Auskunftsanspruch des Testamentsvollstreckers, der die Nachlassauseinandersetzung
    hat, über ausgleichpflichtige Vorempfänge aus § 2057 BGB gegen sämtliche Miterben (siehe
    Palandt/Edenhofer, § 2057, Rn. 1)

    III.) Inhalt der Auskunftsansprüche

    Auskunftsansprüche im Erbrecht können verschiedentlich ausgerichtet sein. Häufig ist er auf die Bezifferung einer Geldforderung oder die Bezeichnung herauszugebender Gegenstände gerichtet.

    Im Rahmen des § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB besteht darüber ausnahmsweise ein Anspruch auf Wertermittlung.

    Weitere Inhalte des Auskunftsanspruches sind:

    – Der Leistungsort ist in aller Regel der Ort des Hauptanspruches.

    – Der Erfüllungsort ist der Wohnsitz des Schuldners, § 269 Abs. 1 BGB

    – Die Auskunft ist unverzüglich i. S. des § 121 Abs. 1 S. 1 BGB, also ohne schuldhaftes Zögern, zu erteilen. Dies ohne Berücksichtigung von Umfang und Schwierigkeit der begehrten Auskunft.

    – Im Rahmen des § 242 BGB bestimmt die unzulässige Rechtsausübung die Grenzen der verlangten Auskunft.
    – Ebenfalls im Rahmen des § 242 BGB sind Verkehrssitte und Zumutbarkeit unter Berücksichtigung des Einzelfalles maßgebend.

    IV.) Form der Auskunft

    Grundsätzlich ist die Auskunft in schriftlicher Form zu erteilen (§§ 259-261 BGB), damit deren Richtigkeit nachgeprüft werden kann.

    Darüber hinaus muss die Auskunft durch eine geordnete Zusammenstellung erfolgen, also
    grundsätzlich durch die Vorlage eines geordneten Bestandsverzeichnisses, in dem die Aktiva und Passiva übersichtlich zusammengestellt sind.

    V.) Einreden gegen den Auskunftsanspruch

    1.) Verjährung

    Gem. § 195 BGB verjährt der Auskunftsanspruch in 30 Jahren.

    Wenn allerdings der Hauptanspruch bereits verjährt ist, so ist das Rechtsschutzbedürfnis für das Auskunftsbegehren zu verneinen.

    Gem. § 209 Abs. 1 BGB unterbricht eine nach § 254 ZPO erhobene Stufenklage nicht nur die
    Verjährung des Auskunftsanspruches, sondern auch die Verjährung des Hauptanspruches
    selbst.

    2.) Zurückbehaltungsrecht und Verwirkung

    Ein Zurückbehaltungsrecht im Rahmen des Klageverfahrens besteht nicht, da sich die gegenseitigen Auskunftsansprüche ansonsten gegenüber stehen würden und keiner mehr durchsetzbar wäre.

    Bei einer eventuellen Verwirkung ist nicht nur das Zeitmoment, sondern auch das Verhalten
    des Auskunftsberechtigten zu berücksichtigen.

    B.) Der Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten im Besonderen.

    I.) Anspruchsvoraussetzungen

    Voraussetzung des Auskunftsanspruches des Pflichtteilsberechtigten ist das Pflichtteilsrecht. Davon zu unterscheiden ist der Pflichtteilsanspruch, der ja erst durch die Auskunft festgestellt werden soll.

    Steht allerdings bereits von vornherein fest, dass der Berechtigte seinen Anspruch nicht
    geltend machen kann, ist auch kein Auskunftsanspruch gegeben.

    II.) Auskunftsberechtigter und -verpflichteter

    Auskunftsberechtigt ist jeder pflichtteilsberechtigte Nichterbe. Bei einer Abtretung zählt dazu auch der neue Gläubiger und auch der Sozialhilfeträger nach Überleitung des Pflichteilanspruches auf ihn (§ 93 SGB XII).

    Auskunftsverpflichtet ist der Erbe oder ein Miterbe als Gesamtschuldner. Der vom Erblasser Beschenkte kann hinsichtlich des fiktiven Nachlasses dann auskunftspflichtig sein, wenn der Erbe dazu nicht in der Lage ist.

    III.) Umfang des Auskunftsanspruches

    Zweck des Auskunftsanspruches ist die Berechnung des Pflichtteilanspruches. Der Umfang des Auskunftsanspruches besteht somit im Rahmen der Offenlegung der Berechnungsfaktoren.
    Die Pflicht zur Vorlage von Belegen besteht gesetzlich zumindest nicht.

    Es ist aber h. M., dass Belege zur Überprüfung der Angaben des Erben verlangt werden dürfen.

    Darüber hinaus kann der Pflichtteilsberechtigte die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung über das Verzeichnis nach § 260 II BGB verlangen.

    Neben dem Auskunftsanspruch besteht auch ein Wertermittlungsanspruch.

    Ist zum Beispiel eine Eigentumswohnung Bestandteil des Erbes, müssen die Erben auf Kosten des Nachlasses Wertgutachten über diese Wohnung einholen.

    IV.) Prozessuales

    Der Pflichtteilsberechtigte kann den Auskunfts- und den Pflichtteilsanspruch in gesonderten Klagen geltend machen.

    Grundsätzlich wird allerdings die Stufenklage gem. § 254 ZPO die richtige Form zur
    Geltendmachung sein.

    Die Stufenklage ist eine objektive Klagehäufung und erlaubt als Ausnahme zu § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in der letzten Stufe einen zunächst unbestimmten Antrag.

    – 1. Stufe ist der Antrag auf Auskunftserteilung (eventuell kann erste Stufe
    auch die Erbenfeststellung sein)

    – 2. Stufe ist der Antrag auf Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung.

    – 3. Stufe ist dann der Antrag auf Zahlung oder Herausgabe.

    Folgender Formulierungsvorschlag bietet sich bei der Stufenklage im Rahmen des
    Auskunftsverlangens des Pflichtteilsberechtigten an:

    Namens und in Vollmacht des Klägers erhebe ich Klage und werde beantragen, folgendes
    Urteil zu erlassen:

    1. Der Beklagte wird im Wege der Stufenklage verurteilt,
    a. Auskunft über den Bestand des Nachlasses der am ….. verstorbenen
    erteilen, und zwar

    aa. hinsichtlich des Wertes des im Grundbuch von […] Band […], Blatt […] eingetragenen Grundstücks durch Vorlage eines Gutachtens und

    bb. im Übrigen durch Vorlage eines Verzeichnisses der Nachlassgegenstände 2314 BGB);

    b. für den Fall, dass das Verzeichnis nicht mit der erforderlichen Sorgfalt aufgestellt
    worden sein sollte, zu Protokoll an Eides statt zu versichern, dass er nach bestem Wissen
    den Bestand des Nachlasses angegeben hat, als er dazu imstande ist.

    c. einen nach Erteilung der Auskunft noch zu beziffernden Betrag nebst 4% Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

    2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

    Wichtiger Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrages ist nach bestem Wissen und Kenntnisstand erstellt worden. Die Komplexität und der ständige Wandel der behandelten Materie machen es jedoch erforderlich, Haftung und Gewähr auszuschließen.

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