Gewerbemietrecht: Vertragsbruch beim Bauvorhaben: LG Wuppertal verurteilt Vermieterin zu Schadensersatz wegen nicht errichteter Mieträume

Landgericht Wuppertal – Urteil vom 24.03.2025 – 17 O 260/23
(BGB §§ 195, 281, 283, 309 Nr. 5, 535, 536a Abs. 1)

1. Schadensersatz nach Grundstücksverkauf: Vermieter haftet für nicht überlassene Mieträume

Das Landgericht Wuppertal hatte über einen klassischen Fall der Vertragsuntreue im Gewerbemietrecht zu entscheiden. Eine Betreiberin von Lebensmitteldiscountern (Klägerin) hatte mit der Grundstückseigentümerin (Beklagte) im Mai 2016 einen langfristigen Mietvertrag über noch zu errichtende Geschäftsräume mit einer Fläche von 1.495 m² geschlossen.

Doch gebaut wurde nie. Stattdessen verkaufte die Vermieterin das Grundstück weiter – ohne die Mieterin zu informieren und ohne sicherzustellen, dass der neue Eigentümer in den Mietvertrag eintritt. Die Folge: Die Klägerin erhielt keine Räume, keinen Baufortschritt, keine Übergabe – und klagte auf Schadensersatz gemäß § 2 Ziffer 4 des Mietvertrags, der eine pauschale Entschädigung in Höhe einer Jahresmiete vorsah.

Das Landgericht Wuppertal gab der Klage statt und sprach der Klägerin 239.857,80 Euro nebst Zinsen zu.

2. Baupflicht liegt allein beim Vermieter (§ 535 BGB i.V.m. Vertragsauslegung)

Zentrale Frage war: Wer war überhaupt verpflichtet, die Mieträume zu errichten – der Vermieter oder der Mieter? Die Beklagte argumentierte, die Klägerin habe sich selbst um die Baugenehmigung kümmern müssen.

Das Gericht stellte klar: Nach dem Wortlaut des Vertrags liegt die Baupflicht eindeutig beim Vermieter. Der Mietvertrag lautet, die Beklagte „vermietet die zu erstellenden Mieträume“. Außerdem verpflichtet § 2 Ziffer 2 des Vertrags den Vermieter, dem Mieter das Einreichen des Bauantrags und den Erhalt der Baugenehmigung mitzuteilen. Eine Verpflichtung der Mieterin zur Errichtung der Räume findet sich nirgends.

Damit war klar: Der Vermieter trägt die Verantwortung für die Errichtung und Fertigstellung der Mietsache.

3. Kein „unmögliches“ Projekt (§§ 275, 283 BGB): Das Bauvorhaben war realisierbar

Die Beklagte versuchte sich mit dem Argument zu verteidigen, das Bauvorhaben sei von Anfang an objektiv unmöglich gewesen. Die Stadt D. habe ein Einzelhandelskonzept mit einer Verkaufsflächenbegrenzung auf 800 m² erlassen, weshalb ein 1.495 m² großer Markt gar nicht genehmigungsfähig gewesen sei.

Auch diese Verteidigung wies das Gericht zurück. Das Grundstück lag im sogenannten „zentralen Versorgungsgebiet“ – dort galt die 800 m²-Begrenzung nicht. Zudem errichtet der neue Eigentümer auf demselben Grundstück mittlerweile selbst einen Drogeriemarkt, was die Realisierbarkeit zusätzlich bestätigt.

Ergebnis: Keine Unmöglichkeit – die Beklagte hätte bauen können und müssen.

4. Anfechtung und Kündigung unwirksam (§§ 119, 314 BGB)

Die Beklagte hatte im Jahr 2022 eine „Anfechtung und außerordentliche Kündigung“ des Mietvertrags erklärt – ohne klare Begründung. Das Gericht stellte fest, dass dieses Schreiben schon formal nicht wirksam war.

Der bloße Hinweis auf eine „zuvor beschriebene Situation“ im Schreiben reiche nicht aus, um die Voraussetzungen einer wirksamen Anfechtung oder Kündigung zu erfüllen. Auch inhaltlich fehlte es an einem tragfähigen Grund. Weder lag ein Irrtum noch ein wichtiger Kündigungsgrund vor.

Damit blieb der Mietvertrag rechtlich bestehen – samt aller Verpflichtungen.

5. Schadenspauschale über eine Jahresmiete ist wirksam (§ 309 Nr. 5 BGB analog)

Die Klägerin stützte ihren Anspruch auf § 2 Ziffer 4 des Mietvertrags: Wenn der Vermieter das Grundstück verkauft und der Erwerber die Überlassung verweigert, schuldet der Vermieter einen pauschalierten Schadenersatz in Höhe einer Jahresmiete.

Das Landgericht bestätigte die Wirksamkeit dieser Klausel. Zwar ist § 309 Nr. 5 BGB (Verbot unangemessen hoher Vertragsstrafen) grundsätzlich auf Verbraucherverträge zugeschnitten, wird aber auch im Verhältnis zwischen Unternehmern analog angewendet. Doch hier sei die Pauschale angemessen, weil sie den typischen Schaden realistisch abbilde.

Die Beklagte habe die Möglichkeit gehabt, nachzuweisen, dass ein geringerer Schaden entstanden sei – habe diesen Nachweis aber nicht geführt.

Fazit: Die vereinbarte Schadenspauschale ist wirksam, weil sie den Schaden weder übersteigt noch den Vermieter unangemessen benachteiligt.

6. Kein verjährter Anspruch (§ 195 BGB): Überlassungsanspruch verjährt während der Mietzeit nicht

Ein weiterer Verteidigungsversuch der Beklagten: Die Ansprüche seien verjährt. Das Landgericht verwarf auch diesen Einwand.

Der Anspruch auf Schadensersatz entstand erst mit dem Verkauf und der Eigentumsumschreibung im Oktober 2023. Die Klage wurde noch im selben Jahr eingereicht und war somit rechtzeitig.

Darüber hinaus betonte das Gericht ausdrücklich: „Der mietvertragliche Überlassungsanspruch verjährt während der Mietzeit nicht.“ Das bedeutet, dass ein Mieter, der auf Übergabe der Mietsache wartet, seine Rechte während der gesamten Vertragslaufzeit wahren kann.

7. Keine Verwirkung (§ 242 BGB): Bloßes Zuwarten genügt nicht

Auch den Einwand der Verwirkung ließ das Gericht nicht gelten. Zwar lag zwischen Vertragsschluss (2016) und Klageerhebung (2023) einige Zeit, doch die Mieterin hatte nie den Eindruck erweckt, sie wolle auf ihre Ansprüche verzichten. Im Gegenteil: Sie hatte versucht, sich durch eine einstweilige Verfügung gegen die Eigentumsübertragung abzusichern.

Damit fehlte das sogenannte „Umstandsmoment“ – ein Verhalten, aus dem der Gegner schließen dürfte, der Anspruch werde nicht mehr geltend gemacht.

8. Vertragsrechtliche Kernaussagen des Urteils

Das Urteil liefert mehrere wichtige Leitsätze für die Praxis des Gewerbemietrechts:

Leitsätze:

  1. Der Überlassungsanspruch des Mieters (§ 535 BGB) verjährt während der Mietzeit nicht.

  2. Bei einem Mietvertrag über „zu errichtende Räume“ liegt die Errichtungspflicht allein beim Vermieter.

  3. Eine pauschalierte Schadensersatzklausel über eine Jahresmiete ist wirksam, wenn sie realistisch und widerlegbar ausgestaltet ist.

  4. Der Verkauf des Grundstücks entbindet den Vermieter nicht von seiner Haftung, wenn der Erwerber die Überlassung verweigert.

  5. Formlose oder pauschale Kündigungen sind unwirksam, wenn sie keine konkreten Gründe nennen.

Diese Grundsätze schaffen Rechtssicherheit – insbesondere für Mieter, die auf Bauprojekte warten, deren Umsetzung sich verzögert oder scheitert.

9. Vertrauen als Fundament des Mietrechts

Juristisch betrachtet, ist dieses Urteil ein Musterbeispiel für konsequente Vertragsauslegung. Doch auch menschlich steckt darin eine Botschaft: Wer baut, übernimmt Verantwortung – nicht nur für Beton und Stahl, sondern für Erwartungen und Zusagen.

Ein Mietvertrag über noch zu errichtende Räume ist wie ein Bauplan auf Papier: Er hat erst dann Wert, wenn jemand bereit ist, ihn in die Tat umzusetzen. Wenn der Vermieter das Projekt aufgibt, ohne seine Verpflichtung zu erfüllen, bleibt der Mieter mit leeren Händen zurück.

Das Landgericht Wuppertal hat hier ein deutliches Zeichen gesetzt: Verträge sind keine Absichtserklärungen, sondern Verbindlichkeiten. Wer sie missachtet, haftet – auch Jahre später.

10. Fazit: Verantwortung kann man nicht einfach weiterverkaufen

Das Urteil des LG Wuppertal vom 24. März 2025 erinnert daran, dass man Verantwortung nicht mit dem Grundstück veräußern kann. Die Beklagte hatte sich verpflichtet, zu bauen und zu vermieten – und beides unterlassen.

Das Gericht machte deutlich: Wer Verpflichtungen eingeht, muss sie erfüllen oder den daraus entstehenden Schaden tragen. Ein Eigentümerwechsel ändert daran nichts.

Damit ist das Urteil nicht nur eine Entscheidung über Schadensersatz, sondern ein Bekenntnis zur Verlässlichkeit des Zivilrechts. Denn im Kern geht es hier um etwas Grundsätzliches:
Verträge sind Versprechen – und Versprechen schaffen Vertrauen.

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Helmer Tieben

Ich bin Helmer Tieben, LL.M. (International Tax), Rechtsanwalt und seit 2005 bei der Rechtsanwaltskammer Köln zugelassen. Ich bin auf Mietrecht, Arbeitsrecht, Migrationsrecht und Digitalrecht spezialisiert und betreue sowohl lokale als auch internationale Mandanten. Mit einem Masterabschluss der University of Melbourne und langjähriger Erfahrung in führenden Kanzleien biete ich klare und effektive Rechtslösungen. Sie können mich auch über
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