Oberlandesgericht Schleswig – Urteil vom 18.07.2025 – 12 U 73/24
(BGB §§ 556, 578)
Originalbelege bleiben Pflicht – keine Digitalisierungspflicht im Gewerbemietrecht
Das Oberlandesgericht Schleswig hatte über eine Frage zu entscheiden, die für viele Vermieter und Mieter von Gewerberäumen relevant ist: Reicht es, wenn der Vermieter Betriebskostenbelege nur digital – etwa als PDF – bereitstellt, oder darf der Mieter weiterhin die Einsicht in die Originalunterlagen verlangen?
Seit dem 1. Januar 2025 erlaubt § 556 Abs. 4 BGB, eingeführt durch das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz, Vermietern von Wohnraum, die Belege elektronisch bereitzustellen. Doch das OLG Schleswig entschied: Diese Regelung gilt nicht für Gewerbemietverhältnisse. Ein Anspruch des Mieters auf Einsicht in die Originalbelege bleibt bestehen.
Das Gericht wies die Berufung einer Vermieterin zurück, die sich auf die neue Gesetzeslage berufen hatte. Sie wollte die Einsichtnahme in Papierform verweigern und stattdessen nur digitale Kopien zur Verfügung stellen. Der Mieter weigerte sich, die Nebenkostenabrechnung zu begleichen, solange er keine Einsicht in die Originalbelege erhielt – mit Erfolg.
Gesetzliche Grundlage: § 556 Abs. 4 BGB gilt nur für Wohnraum
Zentraler Punkt der Entscheidung ist die Abgrenzung zwischen Wohnraum- und Gewerbemiete. § 556 BGB regelt ausdrücklich das Wohnraummietrecht. Nach § 578 BGB gelten diese Vorschriften nur dann für die Gewerbemiete, wenn sie ausdrücklich genannt oder sinngemäß übertragbar sind.
Das OLG Schleswig stellte fest: Der Gesetzgeber hat bewusst keine Verweisung des neuen Absatzes 4 des § 556 BGB in § 578 BGB aufgenommen. Das spricht klar gegen eine Anwendung auf die Gewerbemiete.
Zudem habe der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Gesetzes sogar Änderungen in § 578 BGB vorgenommen – ohne dabei auf elektronische Belege Bezug zu nehmen. Das Gericht wertete dies als bewusste gesetzgeberische Entscheidung, die gewerbliche Mietverhältnisse von der Neuregelung ausnimmt.
Keine planwidrige Regelungslücke – Vertragsfreiheit bleibt vorrangig
Die Vermieterin argumentierte, es liege eine planwidrige Regelungslücke vor, die durch analoge Anwendung zu schließen sei. Das sah das Gericht anders: Eine solche Lücke bestehe nicht.
Der Gesetzgeber habe sich bewusst entschieden, den Parteien im Bereich der Gewerbemiete weitgehende Vertragsfreiheit zu belassen. Während das Wohnraummietrecht den Mieter besonders schützt, sei der gewerbliche Mieter wirtschaftlich stärker und könne mit dem Vermieter individuell vereinbaren, wie die Belegeinsicht erfolgt.
Damit bleibt es bei der alten Rechtslage: Ohne ausdrückliche Vereinbarung kann der Gewerbemieter verlangen, die Originalbelege im Original einzusehen.
Keine rückwirkende Anwendung – Schutz der Rechtssicherheit
Interessant ist die Klarstellung des Gerichts zur zeitlichen Anwendung. Selbst wenn man die Vorschrift analog anwenden wollte, käme sie nur für die Zukunft in Betracht – also für Abrechnungen, die nach dem 1. Januar 2025 erstellt werden.
Für ältere Abrechnungen, die vor Inkrafttreten der Neuregelung erstellt wurden, bleibt das alte Recht maßgeblich. Hier greift der Rechtsgedanke des Art. 171 EGBGB: Bei Dauerschuldverhältnissen gelten für frühere Zeiträume weiterhin die damals bestehenden Vorschriften.
Das bedeutet: Die Vermieterin konnte sich nicht nachträglich auf die neue Gesetzeslage berufen. Eine rückwirkende Anwendung würde die Rechtssicherheit untergraben und den Mieter unangemessen benachteiligen.
Rechtliche Einordnung: Belegeinsicht richtet sich nach § 259 BGB
Auch unabhängig von § 556 BGB stützt sich das Einsichtsrecht des Mieters auf § 259 Abs. 1 Hs. 2 BGB. Danach muss derjenige, der über Einnahmen und Ausgaben Rechenschaft ablegt, „die Belege vorzulegen, soweit sie erteilt zu werden pflegen“.
Der Bundesgerichtshof hatte dazu bereits entschieden (BGH, NZM 2022, 172), dass der Mieter Einsicht in die Belege in der Form verlangen kann, in der sie dem Vermieter selbst vorliegen. Liegen die Unterlagen also digital vor, darf der Vermieter sie digital vorlegen. Hat er aber Originale, muss er diese auch zur Einsicht bereitstellen.
Das OLG Schleswig bestätigte diese Linie und stellte klar: Ein Vermieter darf nicht einfach scannen und das Original einbehalten, wenn er es selbst besitzt.
Bedeutung für die Praxis: Digitalisierung nur mit beiderseitiger Zustimmung
Das Urteil hat erhebliche praktische Auswirkungen auf Gewerbemietverhältnisse – gerade in Zeiten zunehmender Digitalisierung.
Vermieter können sich nicht einseitig auf den neuen § 556 Abs. 4 BGB berufen, um Papierunterlagen vollständig durch digitale Dateien zu ersetzen. Wenn sie Belege ausschließlich in Papierform besitzen, müssen sie diese auch vorlegen. Nur wenn der Vermieter selbst ausschließlich digitale Belege erhalten hat (z. B. von Versorgern oder Dienstleistern), kann er diese auch digital weitergeben.
Das Gericht betonte: Der Gesetzgeber wollte die Digitalisierung fördern, aber nicht erzwingen. In der Gewerbemiete bleibt es daher bei der Vertragsfreiheit: Die Parteien können vereinbaren, dass die Belege digital übermittelt werden – sie müssen es aber nicht.
Praktischer Tipp:
Für Vermieter empfiehlt es sich, in neu abgeschlossenen Gewerbemietverträgen eine klare Klausel aufzunehmen, wonach Betriebskostenbelege elektronisch übermittelt werden dürfen. Ohne eine solche Regelung drohen künftig Auseinandersetzungen wie in diesem Fall.
Keine Grundsatzbedeutung – keine Revision zugelassen
Das OLG Schleswig sah keinen Anlass, die Revision zuzulassen. Die Frage sei weder grundsätzlich klärungsbedürftig noch in der Rechtsprechung umstritten. Zwar diskutieren einige Stimmen in der Literatur (z. B. BeckOK Mietrecht-Pfeifer) eine analoge Anwendung des § 556 Abs. 4 BGB auf die Gewerbemiete, doch diese Auffassung habe sich bislang nicht durchgesetzt.
Damit bleibt die Entscheidung rechtskräftig: Gewerbemieter dürfen auch künftig Originalbelege einsehen – nicht nur digitale Kopien.
Konsequenz: Kein digitaler Automatismus im Gewerbemietrecht
Das Urteil ist ein Signal an die Praxis: Die Digitalisierung im Mietrecht schreitet zwar voran, doch sie findet ihre Grenzen dort, wo sie gesetzlich nicht angeordnet ist.
Während der Wohnraummieter seit 2025 ein digitales Einsichtsrecht hat, muss der Gewerbemieter weiterhin auf das Original vertrauen dürfen. Diese Unterscheidung ist folgerichtig, denn der Gesetzgeber wollte gerade keine Gleichstellung – er setzt auf die Eigenverantwortung der wirtschaftlich stärkeren Vertragsparteien.
Damit zieht das OLG Schleswig eine klare Linie:
Digitale Belege sind erlaubt, aber nicht verpflichtend.
Originalunterlagen bleiben im Gewerbemietrecht der Maßstab.
Fazit:
Das Urteil des OLG Schleswig vom 18. Juli 2025 (12 U 73/24) schafft Rechtssicherheit für Gewerbemieter. Sie behalten das Recht, Betriebskostenbelege im Original einzusehen. Der neue § 556 Abs. 4 BGB gilt nur für Wohnraum und kann weder analog noch rückwirkend auf Gewerbemietverhältnisse angewandt werden. Digitalisierung darf nicht zulasten der Transparenz gehen – und im Zweifel zählt noch immer das Papier.
