Arbeitsgericht Gelsenkirchen: Kündigung wegen Schwerbehinderung unwirksam – Hilfreiches für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Arbeitsgericht Gelsenkirchen, 06.05.2025, Az.: 1 Ca 1608/24

Wenn man über Arbeitsrecht spricht, geht es oft um die großen Fragen: Kündigungsschutz, Gleichbehandlung, Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Doch manchmal zeigt sich die Brisanz dieser Themen erst in konkreten Geschichten, die viel deutlicher machen, wie sehr Recht und Gerechtigkeit im Berufsleben ineinandergreifen. Ein aktuelles Beispiel dafür liefert das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen (Az. 1 Ca 1608/24, Urteil vom 06.05.2025). Der Fall beleuchtet gleich mehrere Aspekte: den Schutz schwerbehinderter Arbeitnehmer, die Grenzen betriebsbedingter Kündigungen und die Rolle von Diskriminierungsverboten im Arbeitsleben.

Sachverhalt

Der Kläger war seit 2017 als kaufmännischer Angestellter in einem Elektrogroßhandel tätig. Im Jahr 2023 erlitt er einen schweren Wegeunfall, der zu einer langanhaltenden Arbeitsunfähigkeit führte. In der Folge wurde bei ihm eine Schwerbehinderung mit einem Grad von 50 % anerkannt. Nach einer längeren Krankheitsphase und einer Wiedereingliederung kündigte der Arbeitgeber im November 2024 das Arbeitsverhältnis – offiziell aus betriebsbedingten Gründen. Doch das war nicht das Ende der Geschichte: Einige Monate später folgte eine weitere Kündigung, diesmal mit Zustimmung des Integrationsamts.

Der Mitarbeiter wehrte sich gegen beide Kündigungen. Das Gericht musste entscheiden, ob sie wirksam waren – und ob dem Kläger darüber hinaus eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zusteht.

Die Entscheidung im Überblick

Das Gericht kam zu einem differenzierten Ergebnis:

  1. Die erste Kündigung (29.11.2024) war unwirksam. Sie wurde im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung des Klägers ausgesprochen und verstieß damit gegen das Benachteiligungsverbot des AGG.
  2. Die zweite Kündigung (19.02.2025) war wirksam. Sie stützte sich auf neue Gründe, unter anderem eine unbedachte WhatsApp-Nachricht des Klägers an Kunden, in der er den Arbeitgeber massiv kritisierte.
  3. Der Kläger erhielt eine Entschädigung in Höhe von 4.754,39 Euro. Grundlage war § 15 Abs. 2 AGG, da die erste Kündigung diskriminierend war.

Warum ist dieses Urteil wichtig?

Dieses Urteil zeigt exemplarisch, wie komplex das Zusammenspiel zwischen Kündigungsschutz, Diskriminierungsverbot und unternehmerischer Freiheit ist. Es macht deutlich: Auch wenn das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) in Kleinbetrieben nicht greift, bedeutet das nicht, dass Beschäftigte schutzlos sind. Das AGG und das SGB IX (Schwerbehindertenrecht) setzen hier wichtige Grenzen.

Man könnte es mit einem Boot vergleichen: In stürmischer See zählt jedes kleine Stück Holz, das Halt gibt. Für schwerbehinderte Arbeitnehmer ist das AGG oft genau dieses rettende Stück Holz, das verhindert, dass sie schutzlos untergehen.

Was lernen wir daraus?

Für Arbeitnehmer bedeutet das Urteil, dass sie ihre Rechte ernst nehmen sollten. Eine Kündigung, die zumindest teilweise auf einer Behinderung beruht, kann unwirksam sein. Für Arbeitgeber wiederum ist es ein deutlicher Hinweis, dass sie im Umgang mit schwerbehinderten Mitarbeitern besonders sorgfältig vorgehen müssen.

Drei zentrale Lehren für Arbeitnehmer:

  • Kenne deine Rechte: Eine Kündigung ist nicht immer endgültig. Wer Zweifel hat, sollte rechtzeitig klagen.
  • Dokumentiere alles: E-Mails, Gespräche, Protokolle – all das kann im Prozess entscheidend sein.
  • Nutze Unterstützung: Schwerbehindertenvertretung, Integrationsamt oder Gewerkschaften sind wichtige Ansprechpartner.

Drei wichtige Hinweise für Arbeitgeber:

  • BEM ernst nehmen: Ein betriebliches Eingliederungsmanagement ist keine Formalie, sondern Pflicht.
  • Diskriminierung vermeiden: Schon der Anschein, dass eine Kündigung wegen einer Behinderung erfolgt, kann rechtliche Folgen haben.
  • Kommunikation klar gestalten: Ehrlichkeit und Transparenz vermeiden spätere Konflikte.

Ein Blick auf die zweite Kündigung

Besonders interessant ist die zweite Kündigung. Sie zeigt, dass auch Arbeitnehmer vorsichtig sein müssen. Eine unüberlegte Nachricht an Kunden – im Ärger oder aus Frust geschrieben – kann rechtliche Konsequenzen haben. Das Gericht sah die WhatsApp-Nachricht, in der der Kläger seinem Arbeitgeber „Spießrutenlauf“ und ungerechtfertigte Behandlung vorwarf, als grob unsachlichen Angriff. Solche Aussagen können nicht nur das Vertrauensverhältnis zerstören, sondern im Extremfall sogar eine Kündigung rechtfertigen.

Praktischer Nutzen für die Arbeitswelt

Das Urteil mahnt beide Seiten: Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Für Arbeitnehmer ist es ein Signal der Hoffnung – selbst in schwierigen Situationen können Rechte durchgesetzt werden. Für Arbeitgeber ist es ein Warnsignal, dass formale Fehler oder diskriminierende Motive teuer werden können.

Gleichzeitig unterstreicht das Urteil die Bedeutung einer offenen Kommunikation. Hätte der Arbeitgeber die vereinbarten Maßnahmen im BEM umgesetzt, wäre es vielleicht nie zu einer Eskalation gekommen. Und hätte der Arbeitnehmer seine Kritik intern statt öffentlich geäußert, wäre die zweite Kündigung womöglich nicht haltbar gewesen.

Fazit

Das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen ist ein Lehrstück darüber, wie Recht und Menschlichkeit im Arbeitsleben zusammenfinden – oder auch auseinanderfallen können. Es zeigt, dass Schutzrechte nicht bloß theoretisch existieren, sondern praktisch wirksam sind. Aber es zeigt ebenso, dass auch Arbeitnehmer Verantwortung tragen, wenn es um den respektvollen Umgang mit dem Arbeitgeber geht.

Am Ende bleibt eine doppelte Botschaft: Niemand ist wehrlos gegenüber einer Kündigung – aber niemand sollte leichtfertig riskieren, dass Vertrauen unwiederbringlich zerstört wird.

Bild von Helmer Tieben

Helmer Tieben

Ich bin Helmer Tieben, LL.M. (International Tax), Rechtsanwalt und seit 2005 bei der Rechtsanwaltskammer Köln zugelassen. Ich bin auf Mietrecht, Arbeitsrecht, Migrationsrecht und Digitalrecht spezialisiert und betreue sowohl lokale als auch internationale Mandanten. Mit einem Masterabschluss der University of Melbourne und langjähriger Erfahrung in führenden Kanzleien biete ich klare und effektive Rechtslösungen. Sie können mich auch über
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