Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, 23.12.2021, Az. 5 Sa 231/21
Manchmal reicht ein einziges Telefonat, um eine ganze Kette auszulösen: Streit über Ton und Umgang, eine Krankmeldung am Freitag, eine rückwirkende Bescheinigung am Montag – und kurz darauf eine Abmahnung plus Anweisung, künftig schon am ersten Krankheitstag ein Attest vorzulegen. Genau so lag der Fall vor dem Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (Urteil vom 23.12.2021, Az. 5 Sa 231/21). Kein Spektakel, sondern Alltag – und gerade deshalb wegweisend. Das Urteil zeigt: Abmahnungen müssen präzise sein wie ein gut geschliffener Schlüssel, und die Attestpflicht ab Tag eins ist kein Tabu, sondern vom Gesetz gedeckt – solange sie nicht willkürlich eingesetzt wird.
Worum es ging – kurz und verständlich
Ein IT-Sachbearbeiter mit jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit hatte ein angespanntes Gespräch mit seinem künftigen Vorgesetzten. Tage später meldete er sich an einem Freitag krank, suchte am Montag den Arzt auf und reichte eine rückwirkende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein. Der Arbeitgeber reagierte doppelt: Er erteilte eine Abmahnung, die mehrere Vorhalte in einem Schreiben bündelte, und verlangte fortan das Attest ab Tag eins. Vor Gericht stritt man über die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte und darüber, ob die Sofort-Attestpflicht zulässig ist.
Was das Gericht entschieden hat
Das LAG hat zweigeteilt geurteilt. Erstens: Die Abmahnung muss aus der Personalakte entfernt werden. Zweitens: Das Verlangen, bereits am ersten Krankheitstag eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, ist rechtmäßig.
Diese Kombination wirkt auf den ersten Blick paradox, ist es aber nicht. Sie folgt zwei klaren Linien: Abmahnungen brauchen konkrete Tatsachen und scharfe Konturen. Die Attestpflicht ab Tag eins stützt sich demgegenüber auf § 5 EFZG (Entgeltfortzahlungsgesetz), das dem Arbeitgeber ausdrücklich erlaubt, eine frühere Vorlage zu verlangen – ohne besonderen Verdacht, aber innerhalb der Grenzen von Fairness und Gleichbehandlung.
Warum die Abmahnung scheiterte
Die Abmahnung war – so das Gericht – zu unbestimmt und teilweise sachlich fehlerhaft. Im Kern ging es um ein einziges, rund 30-minütiges Telefonat. Im Schreiben wurden daraus drei „Vorfälle“ gemacht, ohne den qualitativen Unterschied klar herauszuarbeiten. Zudem blieb unklar, welche konkreten Worte die behauptete „Beschimpfung“ tragen sollten. „Laut, gereizt, aggressiv“ ist unangenehm – aber noch keine justiziable Beschimpfung. Schließlich wurde als „weiteres Vorkommnis“ die Krankmeldung selbst erwähnt, ohne zu behaupten, der Mitarbeiter sei tatsächlich nicht arbeitsunfähig gewesen. Die Krankmeldung an sich ist jedoch kein Pflichtverstoß.
Wichtig ist das „Alles-oder-nichts“-Prinzip: Enthält eine Abmahnung mehrere Vorwürfe, von denen nicht alle tragen, kann sie nicht teilweise stehenbleiben. Treffen nicht alle Punkte zu, ist die Abmahnung insgesamt zu entfernen.
Warum die Attestpflicht ab Tag eins hielt
Der zweite Teil der Entscheidung stützt sich auf § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG. Danach darf der Arbeitgeber die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher verlangen als im gesetzlichen Regelfall (der Regelfall ist „spätestens am vierten Kalendertag“). Das Gesetz verlangt keine Begründung und keinen Verdacht. Grenzen bestehen dort, wo Rechtsausübung schikanös, willkürlich oder diskriminierend wird. Im konkreten Fall war das – so das Gericht – nicht ersichtlich. Der zeitliche Zusammenhang mit einer zuvor abgelehnten Homeoffice-Bitte reichte nicht, um eine unzulässige Maßregelung anzunehmen.
Die Botschaft dahinter ist nüchtern, aber deutlich: Die Attestpflicht ab Tag eins ist ein legitimes Organisationsinstrument. Wer sie einsetzt, sollte das transparent und einheitlich tun – dann hält sie auch vor Gericht.
Das Bild dahinter: Schlüssel und Schloss
Man kann sich das Arbeitsrecht hier gut als Schloss und Schlüssel vorstellen. Die Abmahnung ist ein Feinschlüssel: Nur wenn Zähne (Tatsachen, Zeiten, Zitate) exakt sitzen, öffnet er die Tür zu weiteren Maßnahmen. Ist der Schliff unpräzise – unklare Wertungen, aufgeblähte Vorwürfe, fehlende Details – greift der Schlüssel nicht, und das Schloss bleibt zu. Die Attestpflicht ist dagegen ein Generalschlüssel, den das Gesetz ausdrücklich ausgehändigt hat. Er passt – solange man ihn nicht missbräuchlich in Türen steckt, für die er nie gedacht war.
Kernaussagen in Klartext
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Abmahnungen müssen präzise sein. Vage oder teilweise unrichtige Schreiben sind vollständig zu entfernen.
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Ein Vorfall bleibt ein Vorfall. Aus einem Telefonat drei „Fälle“ zu machen, wirkt konstruiert und ist angreifbar.
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Meinungsäußerung hat Grenzen – aber sie existiert. Ein scharfer Ton allein belegt keine Beschimpfung.
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Attest ab Tag eins ist zulässig. § 5 EFZG erlaubt die frühere Vorlage ohne Verdachtsmoment – solange nicht willkürlich.
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Dokumentation entscheidet. Wer sauber dokumentiert, setzt sich durch – auf beiden Seiten.
Was Mitarbeiter jetzt konkret tun können
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Abmahnung sezierend lesen: Stehen Ort, Zeit, beteiligte Personen und wörtliche Aussagen drin? Wo nur Wertungen stehen, fehlt oft die Substanz.
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Belege sichern: E-Mails, Kalender, Gesprächsnotizen, Dienstpläne, mögliche Zeugen – alles, was den tatsächlichen Ablauf greifbar macht.
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Gegendarstellung zur Personalakte hinterlegen: Kurz, sachlich, ohne Polemik. Das schafft ein Gegengewicht, selbst bevor ein Gericht entscheidet.
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Entfernung verlangen und notfalls einklagen: Unbestimmte oder fehlerhafte Abmahnungen müssen raus; halbgare Korrekturen genügen nicht.
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Attestpflicht akzeptieren und umsetzen: Wenn ab Tag eins angeordnet, konsequent ärztliche Bescheinigung vorlegen. So vermeidet man Nebenbaustellen.
Was Arbeitgeber beachten sollten
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Handwerk vor Hektik: Abmahnungen mit klarem Sachverhalt, präzisen Zitaten und einer eindeutigen verletzten Pflicht formulieren. Keine Sammelsurien.
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Kein künstlicher „Mehrfachvorfall“: Ein Ereignis nicht in mehrere Abmahnungsblöcke aufsplitten, nur um Gewicht zu erzeugen.
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Anhörung und Protokoll: Vor Abmahnung Gespräch führen, Kernaussagen festhalten, Belege beifügen. Das erhöht die Standfestigkeit erheblich.
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Attestregel transparent machen: Kurz schriftlich fixieren (z. B. Rundmail, Richtlinie), ab wann die Bescheinigung verlangt wird, wie sie vorzulegen ist (eAU), wer sie entgegennimmt.
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Einheitlich anwenden: Regeln nicht selektiv nutzen. Gleichbehandlung ist der beste Schutz gegen den Vorwurf der Willkür.
Ein kleiner Fahrplan für beide Seiten
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Vorfall dokumentieren: Was ist passiert? Wer war dabei? Welche Worte fielen? Möglichst zeitnah notieren.
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Relevanz prüfen: Geht es um steuerbares Verhalten oder um Reibung im Ton? Nicht jedes Ärgernis ist abmahnfähig.
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Saubere Form wählen: Ein Vorwurf pro Abmahnung; klare Warnfunktion; kein „Warenkorb“ aus Unmut.
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Kommunikation klären: Stellungnahme einholen, zur Akte nehmen; bei Meinungsverschiedenheiten sachlich bleiben.
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Regeln leben: Attestpflicht angekündigt? Dann konsequent umsetzen – ohne Ausnahmen nach Sympathie.
Warum das Urteil Mut macht
Es bringt Ordnung in ein häufiges Spannungsfeld. Beschäftigte werden vor unpräzisen, aufgeblähten Abmahnungen geschützt. Arbeitgeber erhalten Bestätigung, dass sie mit der Attestpflicht ab Tag eins ein legitimes Steuerungsinstrument haben. Beides zusammen zwingt zu dem, was im Betrieb ohnehin gut tut: Klarheit, Transparenz, Augenmaß.
Am Ende ist die Botschaft erstaunlich schlicht: Wer sorgfältig arbeitet, gewinnt. Eine sauber belegte Abmahnung hält. Eine fair kommunizierte Attestpflicht auch. Und wo beides greift, sinkt die Zahl der Eskalationen. Denn das beste arbeitsrechtliche Werkzeug bleibt das, das man gar nicht erst braucht – weil die Beteiligten wissen, woran sie sind, und miteinander die richtige Sprache finden.
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