Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Az.: 3 S 139/24, Beschluss vom 28. Mai 2025
1. Rechtlicher Kontext und Problemstellung
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg vom 28. Mai 2025 behandelt eine grundlegende Frage des Aufenthaltsrechts: Kann ein ausländischer Staatsangehöriger, der mit einem verlängerten Schengen-Visum gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in Deutschland verweilt, im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel beantragen, obwohl er nicht mit einem nationalen Visum eingereist ist?
Die Entscheidung klärt die Abgrenzung zwischen einem verlängerten Kurzaufenthaltsvisum (Kategorie C) und einem nationalen Visum für langfristige Aufenthalte (Kategorie D) im Sinne des § 6 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Zentral ist hierbei die Frage, ob die Voraussetzungen der Visumbefreiung nach § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV vorliegen.
2. Sachverhalt
Der Antragsteller, ein äthiopischer Staatsangehöriger, reiste im November 2023 mit einem Schengen-Visum zu Geschäftszwecken in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dieses Visum wurde durch die zuständige Ausländerbehörde gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auf 180 Tage verlängert. Noch vor Ablauf der Visumsdauer beantragte der Antragsteller verschiedene Aufenthaltstitel:
-
zur Teilnahme an einem Sprachkurs (§ 16f AufenthG),
-
zur Aufnahme einer Berufsausbildung (§ 16a AufenthG),
-
zur Beschäftigung als Filmschaffender (§ 19c AufenthG i.V.m. § 25 Nr. 1 BeschV).
Die Behörde lehnte sämtliche Anträge ab und ordnete eine Rückführung samt zweijährigem Einreiseverbot an. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht Berlin blieb erfolglos.
3. Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg
In seiner Entscheidung weist das OVG die Beschwerde zurück. Es bestätigt die Auffassung der Vorinstanz, dass der Antragsteller nicht mit dem gesetzlich erforderlichen nationalen Visum eingereist ist und deshalb keine Aufenthaltserlaubnis im Inland beantragen kann (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV).
a. Kein nationaler Aufenthaltstitel durch verlängertes Schengen-Visum
Ein nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verlängertes Schengen-Visum erfüllt nicht die Voraussetzungen eines nationalen Visums im Sinne von § 6 Abs. 3 AufenthG. Die Befreiungsvorschrift des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV greift nur, wenn der Aufenthaltstitel vor Einreise im Ausland für einen dauerhaften oder langfristigen Aufenthalt erteilt wurde. Ein verlängertes Schengen-Visum – auch mit einer maximalen Gültigkeit von 180 Tagen – bleibt dem Charakter nach ein Kurzaufenthaltsvisum.
b. Entstehungsgeschichte und systematische Auslegung
Die Entstehungsgeschichte des § 39 AufenthV belegt ebenfalls, dass die Norm nur klassische nationale Visa im Sinne des § 6 Abs. 3 AufenthG erfasst. Eine gesetzliche Erweiterung auf verlängerte Schengen-Visa ist nie erfolgt, obwohl § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG später eine solche Verlängerung ausdrücklich als „nationales Visum“ bezeichnet. Diese Bezeichnung hat jedoch keine konstitutive Wirkung im Sinne der Aufenthaltsverordnung.
c. Keine Anwendung von § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV
Auch eine mögliche Ausnahme nach § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV kam hier nicht zur Anwendung. Diese Regelung setzt voraus, dass nach der Einreise ein strikter Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels entstanden ist. Ein solcher Rechtsanspruch lag im Fall des Antragstellers nicht vor, da es sich bei den angeführten Aufenthaltszwecken um Soll-Vorschriften handelt, die der Behörde einen Ermessensspielraum einräumen (§§ 16a, 16f, 19c AufenthG).
d. Unionsrechtliche und verwaltungspraktische Einwendungen unbeachtlich
Das Gericht stellt ausdrücklich klar, dass auch unionsrechtliche Regelungen – insbesondere der Visakodex (EG-VO 810/2009) sowie das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) – keinen Anspruch auf Visumbefreiung begründen, wenn nationale Vorschriften das Visumerfordernis eindeutig regeln.
Selbst die Eintragung des verlängerten Visums in der Kategorie D (nationales Visum) in der Visadatenbank oder Hinweise in internen Verwaltungsvorschriften der Ausländerbehörden begründen keine Vertrauensschutzposition. Diese internen Regelungen sind nicht bindend für die Gerichte und vermögen die gesetzliche Auslegung nicht zu beeinflussen.
4. Bedeutung für die Praxis
Der Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg bekräftigt die restriktive Rechtsprechung zur Umwandlung von Schengen-Visa in Aufenthaltstitel nach innerstaatlichem Recht. Ein Aufenthalt auf Basis eines Schengen-Visums – selbst bei Verlängerung auf 180 Tage – eröffnet keine Option auf eine Aufenthaltserlaubnis im Inland. Wer einen längerfristigen Aufenthalt in Deutschland plant (etwa zur Ausbildung, Erwerbstätigkeit oder familiären Zusammenführung), muss das entsprechende nationale Visum bereits vor der Einreise bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung beantragen.
5. Rechtliche Schlussfolgerungen
Für juristische Beratung und Behördenpraxis ergibt sich aus dem Beschluss Folgendes:
-
Verlängerte Schengen-Visa (§ 6 Abs. 2 AufenthG) gelten nicht als vollwertige nationale Visa im Sinne des § 6 Abs. 3 AufenthG.
-
Eine Visumbefreiung nach § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV erfordert stets die Einreise mit einem solchen nationalen Visum.
-
Soll-Vorschriften wie § 16a oder § 16f AufenthG begründen keinen strikten Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, der zur Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV führen könnte.
-
Verwaltungsvorschriften, selbst wenn sie weitergehende Auslegungshilfen bieten, sind nicht rechtlich bindend für die gerichtliche Auslegung.
6. Verfahrensinformationen
-
Vorinstanz: Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – VG 30 L 725/24
-
Verfahrensart: Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO
-
Streitwert: 2.500 EUR
-
Kostenentscheidung: § 154 Abs. 2 VwGO
-
Unanfechtbarkeit: § 152 Abs. 1 VwGO
Wichtiger Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrages ist nach bestem Wissen und Kenntnisstand erstellt worden. Die Komplexität und der ständige Wandel der behandelten Materie machen es jedoch erforderlich, Haftung und Gewähr auszuschließen.
Wenn Sie rechtliche Beratung benötigen, rufen Sie uns unverbindlich unter der Rufnummer 0221 – 80187670 an oder schicken uns eine Email an info@mth-partner.de
Rechtsanwälte in Köln beraten und vertreten Mandanten bundesweit im Ausländerrecht