Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen – Beschluss vom 25.09.2025 – 19 E 359/25
Behördenüberlastung ist kein Rechtfertigungsgrund für Untätigkeit
Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem wegweisenden Beschluss klargestellt, dass Personalmangel und Arbeitsüberlastung keine rechtlichen Gründe sind, um Einbürgerungsverfahren auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Das Gericht hob damit eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Arnsberg auf, das das Verfahren bis Ende 2025 ausgesetzt hatte, weil die zuständige Behörde nach eigenen Angaben überlastet sei.
Für den Kläger, der bereits im Februar 2024 einen vollständigen Antrag auf Einbürgerung gestellt hatte, bedeutet die Entscheidung: Sein Verfahren muss weiterbearbeitet und innerhalb angemessener Zeit entschieden werden.
Maßstab: § 75 VwGO und der Anspruch auf zeitgerechten Rechtsschutz
Nach § 75 VwGO darf eine Person, deren Antrag auf Erlass eines Verwaltungsakts länger als drei Monate ohne Entscheidung bleibt, eine Untätigkeitsklage erheben – es sei denn, es besteht ein „zureichender Grund“ für die Verzögerung.
Das OVG NRW betonte, dass dieser Paragraph auch für Einbürgerungsverfahren gilt. Der Gesetzgeber habe trotz der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2024 keine Sonderregelung geschaffen, die die Frist verlängern würde.
Damit gilt: Nach drei Monaten darf grundsätzlich geklagt werden, wenn keine Entscheidung ergangen ist. Eine Verlängerung dieser Frist für das Staatsangehörigkeitsrecht wurde weder im Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts (StARModG 2024) noch im laufenden Sechsten Änderungsgesetz vorgesehen.
Kein „zureichender Grund“ bei dauerhafter Überlastung
Das Gericht stellte klar, dass organisatorische Probleme innerhalb der Behörde – wie Personalmangel, Krankheitswellen oder Arbeitsüberlastung – keine ausreichende Rechtfertigung sind, um Verfahren übermäßig zu verzögern.
Nur in Ausnahmefällen kann eine vorübergehende Antragsflut infolge einer Gesetzesänderung eine kurzfristige Verzögerung entschuldigen. Besteht die Überlastung jedoch über Jahre hinweg, handelt es sich um ein strukturelles Organisationsdefizit, das die Verwaltung selbst zu beheben hat.
Das Gericht formulierte deutlich:
„Besteht keine vorübergehende, sondern eine andauernde Arbeitsüberlastung der Sachbearbeiter, ist es Aufgabe der Behördenleitung, für hinreichenden Ersatz zu sorgen oder organisatorische Maßnahmen zu treffen.“
Mit anderen Worten: Verwaltungsengpässe sind kein rechtliches Problem des Bürgers, sondern der Verwaltung selbst.
Beginn der Bearbeitungsfrist: Antragseingang, nicht Vorsprachetermin
Ein weiterer zentraler Punkt der Entscheidung betrifft den Beginn der Frist nach § 75 VwGO. Die Behörde hatte argumentiert, die Bearbeitungsfrist beginne erst mit der persönlichen Vorsprache des Antragstellers. Das OVG NRW widersprach dieser Auffassung entschieden.
Die Frist begann bereits mit dem Eingang des schriftlichen Einbürgerungsantrags am 16. Februar 2024. Einbürgerungsanträge seien nicht formgebunden und könnten formlos gestellt werden – ein persönliches Erscheinen sei keine gesetzliche Voraussetzung.
Das Gericht stellte damit klar: Die Verwaltung darf die Bearbeitung eines Antrags nicht künstlich verzögern, indem sie den Fristbeginn an eine persönliche Vorsprache koppelt.
Dauerhafte Überlastung widerspricht dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz
Das OVG NRW stellte den Zusammenhang zwischen § 75 VwGO und Art. 19 Abs. 4 GG heraus: Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz umfasst auch die Pflicht des Staates, innerhalb angemessener Zeit zu entscheiden.
Eine mehr als 18 Monate andauernde Bearbeitung eines Einbürgerungsantrags ohne substantielle Fortschritte sei daher nicht mehr zumutbar. Die vom Gericht festgestellte Verzögerung verletze den Anspruch des Bürgers auf zeitgerechten Rechtsschutz.
Damit betonte das Gericht einen verfassungsrechtlichen Grundsatz:
„Wirksamer Rechtsschutz bedeutet Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.“
Keine Entschuldigung durch andere Behörden
Die beklagte Kommune hatte außerdem geltend gemacht, dass die Überprüfung des vom Kläger vorgelegten irakischen Passes noch andauere, weil die Polizei die Echtheitsprüfung verzögert habe. Auch dieses Argument wies das Gericht zurück.
Verzögerungen anderer Behörden bei Mitwirkungshandlungen müsse sich die bearbeitende Behörde zurechnen lassen. Sie bleibe verantwortlich, den Vorgang zu koordinieren und zeitnah zum Abschluss zu bringen.
Anforderungen an „zureichende Gründe“ nach § 75 VwGO
Das OVG NRW ordnete die Fallkonstellation in die bestehende Rechtsprechung ein. Ein zureichender Grund könne nur dann vorliegen, wenn:
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noch Unterlagen oder Mitwirkungshandlungen des Antragstellers fehlen,
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die Sachlage besonders komplex ist,
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oder außergewöhnliche Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Tatsachen bestehen.
Nicht ausreichend sind dagegen:
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Personalmangel, Urlaub oder Krankheit,
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interne Organisationsprobleme,
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andauernde Überlastung der Verwaltung.
Diese Linie entspricht der bisherigen Rechtsprechung anderer Obergerichte (vgl. Sächs. OVG, OVG Saarland, OVG Rheinland-Pfalz) und der Kommentarliteratur (Eyermann, § 75 Rn. 9).
Bedeutung für Einbürgerungsverfahren und Verwaltungsrecht allgemein
Der Beschluss des OVG NRW hat erhebliche praktische Relevanz – insbesondere angesichts der bundesweit stark gestiegenen Zahl von Einbürgerungsanträgen seit 2024. Viele Kommunen verweisen auf Überlastung, um Bearbeitungszeiten zu verlängern oder Verfahren ruhen zu lassen.
Das Gericht zieht hier eine klare Grenze: Dauerhafte Überlastung ist kein zureichender Grund für Untätigkeit. Behörden müssen rechtzeitig organisatorisch reagieren – etwa durch Personalaufstockung, Digitalisierung oder Priorisierung.
Zudem stärkt die Entscheidung die Rechte der Antragsteller: Sie können bereits nach drei Monaten Untätigkeitsklage erheben, wenn keine nachvollziehbaren Gründe für die Verzögerung vorliegen.
Kein Raum für gesetzgeberische Auslegungsspielräume
Das OVG stellte ausdrücklich fest, dass der Gesetzgeber die bestehenden Fristen bewusst beibehalten hat, obwohl im Gesetzgebungsverfahren mehrfach über eine Verlängerung diskutiert wurde.
Weder der Bundesrat noch der Bundestag haben den Vorschlag umgesetzt, die Sperrfrist für Untätigkeitsklagen in Einbürgerungsverfahren auf sechs oder zwölf Monate zu verlängern. Damit gilt unverändert die Dreimonatsfrist.
Das Gericht machte deutlich: Eine analoge oder „politisch motivierte“ Verlängerung durch richterliche Interpretation wäre ein unzulässiger Eingriff in die gesetzgeberische Kompetenz.
Fazit: Verwaltungsstillstand ist keine Option
Mit seinem Beschluss vom 25. September 2025 hat das OVG Nordrhein-Westfalen ein deutliches Signal gesetzt: Überlastung entbindet die Verwaltung nicht von ihrer Pflicht, innerhalb angemessener Zeit zu entscheiden.
Die Entscheidung schützt Antragsteller, stärkt den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und verpflichtet Behörden, ihre Organisation an die Realität steigender Antragszahlen anzupassen.
Für die Praxis bedeutet das:
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Wer länger als drei Monate auf eine Entscheidung wartet, kann rechtlich gegen Untätigkeit vorgehen.
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Behörden müssen Überlastung als internes Problem behandeln, nicht als Rechtfertigung.
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Einbürgerungsbewerber dürfen erwarten, dass ihr Verfahren ohne unangemessene Verzögerung abgeschlossen wird.
Kurz gesagt:
Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz schließt das Recht auf eine zeitgerechte Entscheidung ein – und das gilt auch dann, wenn die Behörde zu viel zu tun hat.
