VG München: Aufenthaltstitel für Auszubildende darf nicht automatisch erlöschen – Nebenbestimmung zur Pflegeausbildung aufgehoben

Verwaltungsgericht München – Beschluss vom 29.11.2024 – M 24 E 24.6836

Das Verwaltungsgericht München hat mit Beschluss vom 29. November 2024 entschieden, dass die Nebenbestimmung „Der Aufenthaltstitel erlischt vier Wochen nach Abbruch/Beendigung der Beschäftigung sowie mit Bezug von Leistungen nach SGB II oder SGB XII“ in einer Aufenthaltserlaubnis für eine ausländische Auszubildende rechtswidrig ist.

Die Ausländerbehörde hatte der marokkanischen Antragstellerin, die im Rahmen des Fachkräfteverfahrens nach § 81a AufenthG eingereist war, eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausbildung als Pflegefachfrau erteilt. Nach Kündigung des Schulvertrags und des Ausbildungsbetriebs wurde ihr mitgeteilt, der Aufenthaltstitel sei automatisch vier Wochen nach Ausbildungsende erloschen. Das Gericht stoppte dieses Vorgehen: Der Aufenthaltstitel besteht fort, die Nebenbestimmung ist aufzuheben.

Hintergrund: Aufenthaltserlaubnis nach § 16a AufenthG

Die Antragstellerin war 2023 mit Visum zur Pflegeausbildung nach Deutschland gekommen. Nach einem Schulwechsel wurde ihre Aufenthaltserlaubnis verlängert, allerdings unter der Bedingung, dass sie vier Wochen nach Ausbildungsende oder bei Leistungsbezug nach SGB II oder SGB XII automatisch erlösche.

Nachdem ihre Pflegeschule im September 2024 das Ausbildungsverhältnis beendete, ging die Ausländerbehörde davon aus, dass der Aufenthaltstitel Mitte Oktober 2024 automatisch erloschen sei. Sie forderte die Antragstellerin auf, das Land zu verlassen, und drohte eine Anzeige wegen unerlaubten Aufenthalts an.

Doch die junge Frau hatte bereits einen neuen Ausbildungsvertrag mit Beginn im Januar 2025 vorgelegt und beantragte einstweiligen Rechtsschutz – mit Erfolg.

Maßstab: § 123 VwGO – Eilanordnung zum Schutz vor unzumutbaren Nachteilen

Das Gericht verpflichtete die Behörde im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO), die auflösende Bedingung aufzuheben und eine neue Aufenthaltserlaubnis ohne diese Klausel auszustellen.

Es sah sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund gegeben:

  • Die Antragstellerin hatte ein schutzwürdiges Recht auf Fortbestand ihres Aufenthaltstitels.

  • Die angekündigten Vollzugsmaßnahmen (Ausreiseaufforderung, Weiterleitung an die Polizei) machten sofortiges gerichtliches Handeln notwendig.

Da der Aufenthaltstitel Grundlage für die Fortsetzung ihrer Ausbildung war, wäre ein Abwarten der Hauptsache unzumutbar gewesen.

Gericht: Auflösende Bedingung widerspricht dem Zweck des § 16a AufenthG

Das VG München sah die umstrittene Nebenbestimmung als rechtswidrig an. Zwar können Aufenthaltstitel nach § 12 Abs. 2 Satz 1 AufenthG grundsätzlich mit Bedingungen versehen werden – auch aufschiebenden oder auflösenden. Doch solche Bedingungen müssen sachgerecht, verhältnismäßig und mit der gesetzlichen Systematik vereinbar sein.

Die automatische Erlöschensklausel sei das nicht:

  • Sie widerspreche dem Zweck des § 16a Abs. 4 AufenthG, der Auszubildenden ausdrücklich bis zu sechs Monate Zeit gibt, einen neuen Ausbildungsplatz zu suchen.

  • Sie entziehe der Behörde die gesetzlich vorgesehene Ermessensentscheidung über Widerruf, Rücknahme oder Verkürzung des Aufenthaltstitels.

  • Sie verletze das Prinzip der Einzelfallprüfung.

Der Gesetzgeber habe bewusst vorgesehen, dass bei Wegfall der Ausbildung die Behörde prüft, ob die Ausländerin den Abbruch zu vertreten hat. Nur wenn ein Verschulden vorliegt, kann die Behörde die Aufenthaltserlaubnis widerrufen oder verkürzen – nicht aber automatisch beenden.

Auflösende Bedingung ist ermessensfehlerhaft und unbestimmt

Nach Ansicht des Gerichts fehlt der Nebenbestimmung jede tragfähige Ermessensbegründung. Die Behörde habe weder ein öffentliches Interesse noch einen einzelfallbezogenen Grund dokumentiert, warum sie gerade bei dieser Antragstellerin eine automatische Beendigungsregelung für notwendig hielt.

Darüber hinaus sei die Klausel unbestimmt: Der Passus „mit Bezug von Leistungen nach SGB II oder SGB XII“ lasse offen, wann genau die Bedingung eintrete und wie der Leistungsbezug nachgewiesen werden müsse. Damit fehle es an der erforderlichen Klarheit, die jede aufenthaltsrechtliche Nebenbestimmung haben muss.

Das Gericht stellte klar:

„Eine auflösende Bedingung, mit deren Eintritt der Aufenthaltstitel erlischt, ist unzulässig, wenn sie gesetzliche Wertungen unterläuft.“

Vorrang der gesetzgeberischen Wertung in § 16a Abs. 4 AufenthG

Besonders betonte das Gericht die gesetzgeberische Intention des 2023 reformierten § 16a AufenthG. Danach ist die Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis für Ausbildungszwecke nicht mehr Ermessenssache, sondern Regelfall – solange die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.

Der § 16a Abs. 4 AufenthG regelt zudem, dass Ausländerinnen und Ausländer nach einem Ausbildungsabbruch, den sie nicht zu vertreten haben, eine sechsmonatige Frist zur Suche eines neuen Ausbildungsplatzes erhalten.

Damit wollte der Gesetzgeber den Zuzug von Fachkräften und Auszubildenden fördern und deren rechtliche Position stärken. Eine auflösende Bedingung, die den Titel sofort erlöschen lässt, steht diesem Ziel diametral entgegen.

Alternative Instrumente: Widerruf, Rücknahme oder Befristung

Das VG München verwies auf die bestehenden Instrumente im Aufenthaltsgesetz: Bei Wegfall der Voraussetzungen kann die Behörde den Titel widerrufen (§ 52 AufenthG), zurücknehmen (§ 48 VwVfG) oder nachträglich befristen (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).

Diese Mechanismen ermöglichen eine einzelfallgerechte Entscheidung und berücksichtigen, ob der Ausländer an der Beendigung der Ausbildung ein Verschulden trägt. Durch eine starre Bedingung entzieht sich die Behörde dieser gebotenen Ermessensausübung.

Kein Erlöschen des Aufenthaltstitels – Behörde muss klarstellen

Obwohl die auflösende Bedingung rechtswidrig ist und deshalb keine Wirksamkeit entfalten kann, ordnete das Gericht ausdrücklich an, dass sie aufzuheben sei. Damit solle der „Rechtsschein der Wirksamkeit“ beseitigt werden.

Die Ausländerbehörde muss die Aufenthaltserlaubnis daher neu ausstellen – ohne die unzulässige Nebenbestimmung.

Das Gericht betonte, dass die Antragstellerin weiterhin über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfüge. Das angebliche Erlöschen sei nie eingetreten.

Bedeutung für Praxis und Fachkräftezuwanderung

Das Urteil hat erhebliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus. In vielen Fachkräfteverfahren nach § 81a und § 16a AufenthG versehen Ausländerbehörden Aufenthaltstitel mit ähnlichen Erlöschensklauseln.

Das VG München stellt nun klar:

  • Der Aufenthaltstitel darf nicht automatisch erlöschen.

  • § 16a Abs. 4 AufenthG gewährt ausdrücklich eine Suchfrist von bis zu sechs Monaten.

  • Ein Wechsel des Ausbildungsbetriebs innerhalb dieser Zeit ist ohne neues Visum möglich, sofern kein Verschulden des Ausländers vorliegt.

Damit stärkt das Gericht die Rechtssicherheit für Auszubildende aus Drittstaaten und unterstreicht die Verantwortung der Behörden, migrationspolitische Förderziele nicht durch Verwaltungspraxis zu unterlaufen.

Fazit: Rechtsklarheit statt Automatismus

Das VG München hat mit seinem Beschluss vom 29. November 2024 (M 24 E 24.6836) einen wichtigen Beitrag zur Systematik des Aufenthaltsrechts geleistet.

Die Entscheidung betont, dass Nebenbestimmungen kein Instrument sein dürfen, um gesetzliche Schutzmechanismen zu umgehen. Das automatische Erlöschen eines Aufenthaltstitels nach Ausbildungsabbruch widerspricht dem Sinn des § 16a AufenthG und der Fachkräftepolitik.

Kernbotschaft:
Die Ausländerbehörde muss in jedem Einzelfall prüfen, ob ein Widerruf oder eine Befristung erforderlich ist. Ein Aufenthaltstitel darf nicht einfach „von selbst“ verschwinden – schon gar nicht, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich eine zweite Chance vorsieht.

Bild von Helmer Tieben

Helmer Tieben

Ich bin Helmer Tieben, LL.M. (International Tax), Rechtsanwalt und seit 2005 bei der Rechtsanwaltskammer Köln zugelassen. Ich bin auf Mietrecht, Arbeitsrecht, Migrationsrecht und Digitalrecht spezialisiert und betreue sowohl lokale als auch internationale Mandanten. Mit einem Masterabschluss der University of Melbourne und langjähriger Erfahrung in führenden Kanzleien biete ich klare und effektive Rechtslösungen. Sie können mich auch über
Xing erreichen Helmer Tieben
sowie über X:
Helmer Tieben.

Linkedln

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert