Bundesverwaltungsgericht, 26.01.2017, Az.: BVerwG 1 C 1.16
Zwischen dem Europa und der Türkei besteht bereits seit einer langen Zeit ein sog. Assoziierungsabkommen. Rechtlich wird dieses Assoziierungsabkommen als völkerrechtlicher Vertrag eingestuft. Zielsetzung dieses Abkommens war und ist eine Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und der EU. Beispielweise durch eine schrittweise Annäherung einer Zollunion sowie der jeweiligen Wirtschaftspolitik.
Zu dem Assoziierungsabkommen wurde unter Anderem ein Zusatzprotokoll von den Vertragsparteien verabschiedet, welches die Einzelheiten sowie den Zeitplan für die Übergangsphase bis zur Verwirklichung der Zollunion festschrieb. Das Zusatzprotokoll beinhaltet in seinem Artikel 41 Abs. 1 ein sogenanntes „Verschlechterungsverbot“ („Stand-Still-Klausel“) bezüglich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.
In dem Zusatzprotokoll ist festgelegt, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs hinzufügen dürfen. Diese Klausel hat Bedeutung für die immer wieder auftauchende Frage, ob türkische Staatsangehörige der Visumpflicht unterliegen.
Hintergrund und Sachverhalt
In diesem Fall begehrte eine türkische Staatsangehörige, die Klägerin, den Nachzug zu ihrem in Deutschland lebenden Ehemann, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist. Der Ehemann der Klägerin lebte und arbeitete bereits seit mehreren Jahren in Deutschland. Die Klägerin reiste im Jahr 2013 mit einem Schengen-Visum über die Niederlande nach Deutschland ein und beantragte im Mai 2013 eine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Dabei führte sie an, dass sie aufgrund gesundheitlicher Probleme wie Diabetes mellitus (Typ 2) und Anämie sowie ihres Analphabetismus auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen sei.
Die zuständige Ausländerbehörde lehnte den Antrag ab, da die Klägerin nicht nachweisen konnte, dass sie über einfache Deutschkenntnisse verfügte, wie es gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) gefordert wird. Zudem wurde der Antrag abgelehnt, weil die Klägerin ohne das erforderliche nationale Visum nach Deutschland eingereist war. Die Klägerin erhob daraufhin Klage beim Verwaltungsgericht, das ihrer Klage stattgab. Das Verwaltungsgericht argumentierte, dass beide Versagungsgründe aufgrund der assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln des Art. 13 ARB 1/80 und Art. 7 ARB 2/76 nicht geltend gemacht werden könnten.
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und Vorlage an den EuGH
Das Bundesverwaltungsgericht befasste sich im Rahmen der Revision mit dem Fall und stellte fest, dass Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage bestand, ob das nationale Visumerfordernis beim Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer mit der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 vereinbar sei. Aus diesem Grund legte das Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor, darunter auch die Frage nach der Fortgeltung dieser Stillhalteklausel für Rechtsänderungen, die – wie die Einführung der Visumpflicht für nachziehende Ehepartner – kurz vor Inkrafttreten der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 in Kraft getreten waren.
Das Bundesverwaltungsgericht sah hinsichtlich der Vereinbarkeit des Spracherfordernisses mit dem Unionsrecht keinen Klärungsbedarf mehr, da während des Klageverfahrens eine Härteklausel (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG) in Kraft getreten war. Diese Klausel ermöglicht es, auf das Spracherfordernis zu verzichten, wenn es dem Ehegatten aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht möglich oder zumutbar ist, vor der Einreise nach Deutschland einfache Deutschkenntnisse zu erwerben.
Rechtliche Analyse der Stillhalteklauseln
Ein zentrales Thema des Falls ist die Bedeutung und Anwendung der Stillhalteklauseln des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, insbesondere Art. 13 ARB 1/80 und Art. 7 ARB 2/76. Diese Klauseln sollen sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten keine neuen Beschränkungen für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen einführen. Die entscheidende Frage war, ob das nationale Visumerfordernis, das nach Inkrafttreten von Art. 7 ARB 2/76, aber vor Inkrafttreten von Art. 13 ARB 1/80 eingeführt wurde, mit den assoziationsrechtlichen Bestimmungen vereinbar ist.
Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass unklar ist, ob Art. 7 ARB 2/76 durch Art. 13 ARB 1/80 vollständig ersetzt wurde oder ob die Regelungen des Art. 7 ARB 2/76 weiterhin Anwendung finden. Zudem musste geklärt werden, ob die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 ARB 1/80 auch auf Art. 7 ARB 2/76 übertragbar ist. Schließlich stellte sich die Frage, ob das nationale Visumerfordernis durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, wie effektive Einwanderungskontrollen, gerechtfertigt ist, wenn besondere Härtefälle berücksichtigt werden.
Die Bedeutung des EuGH-Urteils
Das Urteil des EuGH in diesem Vorabentscheidungsverfahren hat weitreichende Implikationen für die Anwendung des Unionsrechts auf türkische Staatsangehörige in der EU. Insbesondere die Frage, ob nationale Regelungen, die vor Inkrafttreten von Art. 13 ARB 1/80 eingeführt wurden, noch unter die frühere Stillhalteklausel fallen, ist von großer Bedeutung. Sollte der EuGH entscheiden, dass Art. 7 ARB 2/76 weiterhin Gültigkeit besitzt, könnte dies dazu führen, dass bestimmte nationale Regelungen, die den Ehegattennachzug erschweren, nicht mehr anwendbar sind.
Darüber hinaus spielt die Abwägung zwischen nationalen Interessen, wie der Kontrolle von Migration, und den Rechten von türkischen Staatsangehörigen eine zentrale Rolle. Sollte der EuGH das Visumerfordernis als gerechtfertigt ansehen, könnte dies die Position der Mitgliedstaaten stärken, ihre Einwanderungspolitik auch im Kontext des Assoziationsabkommens eigenständig zu gestalten.
Die Härtefallregelung im Aufenthaltsgesetz
Ein weiterer entscheidender Aspekt des Falls war die Einführung der Härtefallregelung im Aufenthaltsgesetz (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG). Diese Regelung erlaubt es, von dem Erfordernis einfacher Deutschkenntnisse abzusehen, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen. Im vorliegenden Fall wurde argumentiert, dass die gesundheitlichen Probleme der Klägerin sowie ihr Analphabetismus solche besonderen Umstände darstellen, die es ihr unzumutbar machen, die geforderten Sprachkenntnisse zu erwerben.
Die Härtefallregelung zeigt die Flexibilität des deutschen Aufenthaltsrechts, das in besonderen Fällen eine Ausnahme von den allgemeinen Erfordernissen zulässt. Diese Regelung könnte in zukünftigen Fällen eine bedeutende Rolle spielen, wenn es darum geht, den Schutz von Familienrechten gegen die berechtigten Interessen der Migrationssteuerung abzuwägen.
Schlussfolgerungen und zukünftige Entwicklungen
Der Fall unterstreicht die komplexe Wechselwirkung zwischen nationalem Recht, europäischem Recht und den Rechten von Drittstaatsangehörigen im Kontext des Ehegattennachzugs. Die Entscheidung des EuGH wird entscheidend sein für die zukünftige Handhabung des Ehegattennachzugs türkischer Staatsangehöriger in Deutschland und möglicherweise auch in anderen EU-Mitgliedstaaten.
Sollte der EuGH zugunsten der Klägerin entscheiden, könnte dies zu einer Lockerung der Anforderungen an den Ehegattennachzug führen, insbesondere hinsichtlich der Sprachkenntnisse und des Visumerfordernisses. Andererseits könnte eine Entscheidung zugunsten der nationalen Regelungen die Position der Mitgliedstaaten stärken, die Migration stärker zu kontrollieren und ihre nationalen Interessen durchzusetzen. Die rechtliche Klärung durch den EuGH wird also nicht nur Auswirkungen auf den vorliegenden Fall haben, sondern auch auf die allgemeine Rechtslage im Bereich des Ehegattennachzugs im Kontext des Assoziierungsabkommens.
Quelle: Bundesverwaltungsgericht
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