Ausländerrecht: Zur Anrechnung der Gestattungszeiten bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG - MTH Rechtsanwälte Köln
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Ausländerrecht
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von: Helmer Tieben

Verwaltungsgericht Hamburg, Urteil vom 02.12.2022, Az.: 5 K 4511/21

Auf den für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs.4 Satz 4 iVm § 35 Abs.1 Satz 2 AufenthG erforderlichen Aufenthalt des Antragstellenden in Deutschland wird im Sinne des § 26 Abs.4 Satz 3 AufenthG die Zeit angerechnet, in der der Antragstellende sich während des Asylverfahrens bereits im Bundesgebiet aufhält.

In dem vorliegenden Fall hatte der 1998 geborene Kläger, der bereits 2015 nach Deutschland einreiste und einen Asylantrag stellte, aber erst 2018 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt bekam, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gestellt. Die zuständige Behörde hatte den Antrag abgelehnt und dem Widerspruch des Klägers nicht abgeholfen. Dieser erhob daraufhin am 27.10.2021 Klage vor dem Verwaltungsgericht Hamburg.

Sachverhalt des gerichtlichen Verfahrens

Afghanischer Kläger hatte vergeblich unbefristeten Aufenthaltstitel (Niederlassungserlaubnis) beantragt

Der 1998 in Afghanistan geborene Kläger reiste 2015 in die Bundesrepublik ein und stellte am 16.07.2015 einen Asylantrag. Nachdem am 05.09.2018 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs.5 AufenthG für Personen aus Afghanistan festgestellt wurde, erhielt der Kläger am 28.09.2018 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs.3 AufenthG. Im September 2019 begann er eine Ausbildung zum KfZ-Mechatroniker, die er zum Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis noch nicht abgeschlossen hatte.

Ausländerbehörde sah Aufenthaltszeiten und Versicherungsbeiträge als nicht erfüllt an

Der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs.4 iVm § 9 Abs.2 AufenthG, da er nicht nachweisen könne, dass er mindestens 60 Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet habe.

Er erfülle weiterhin nicht die Voraussetzungen zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs.4 iVm § 35 Abs.1 Satz 2 AufenthG. Durch den Verweis in § 26 Abs.4 Satz 4 AufenthG könne zwar auch eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, wie die des Klägers, als Aufenthaltserlaubnis iSd § 35 Abs.1 Satz 2 Nr.1 AufenthG zugrunde gelegt werden, diese müsse jedoch bereits vor Eintritt in die Volljährigkeit bestanden haben. Der Antragstellende dürfe lediglich bei Ablauf der Frist von fünf Jahren volljährig sein, nicht jedoch bei Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Die gestatteten Aufenthaltszeiten während des laufenden Asylverfahrens, bei dessen Beginn der Kläger noch minderjährig war, seien nicht anzurechnen. Dies ergebe sich aus der Systematischen Stellung der Sätze innerhalb des § 26 Abs.4 AufenthG. Die Anrechnung der Gestattungszeiten ist in Satz 3 geregelt, der Verweis auf § 35 erst in Satz 4. Daraus ergebe sich, dass die Anrechnung nur für die Fälle der Sätze 1 und 2, nicht aber für die Fälle der Verweisung gelte. Auch das Bundesverwaltungsgericht folge in seiner Rechtsprechung dieser Auffassung (BVerwG, Urt. v. 13.9.2011, 1 C 17/10).

Der Kläger hingegen führte an, die Gestattungszeiten gemäß § 55 Abs.3 AsylG während des seit 2015 laufenden Asylverfahrens seien auf den Aufenthalt anzurechnen und er erfülle daher die Voraussetzung des § 35 Abs.1 Satz 2 Nr.1.

Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg

Das Gericht gab der Klage insoweit statt, als dass es den Ablehnungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.10.2021 aufhob und die Behörde verpflichtete, über den Antrag des Klägers unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erneut zu entscheiden. Ein gebundener Anspruch aus § 26 Abs.4 iVm § 9 Abs.2 AufenthG oder aus § 26 Abs.4 iVm § 35 Abs.1 Satz 1 AufenthG bestehe nicht, der Kläger habe jedoch einen Anspruch auf Neubescheidung nach pflichtgemäßem Ermessen aus § 26 Abs.4 iVm § 35 Abs.1 Satz 2 AufenthG.

Das Gericht folgt insoweit der Auffassung der Behörde, als dass dem Kläger aufgrund der nicht ausreichenden Beiträge zur Rentenversicherung kein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs.4 iVm § 9 Abs.2 AufenthG zustehe.

Das Verwaltungsgericht sah zumindest die Aufenthaltszeiten als erfüllt an

Der Kläger erfülle jedoch die Voraussetzungen des § 26 Abs.4 Satz 4 iVm § 35 Abs.1 Satz 2 AufenthG. Insbesondere seien die Gestattungszeiten während des laufenden Asylverfahrens auf den Aufenthalt anzurechnen, sodass die rechtliche Grundlage für die Aufenthaltserlaubnis bereits vor Beginn der Volljährigkeit des Klägers geschaffen war.

Zu dieser Entscheidung gelangte das Gericht zunächst aufgrund systematischer Erwägungen. Die Verweisung sei nicht etwa in Satz 4, also hinter der Anrechnung der Gestattungszeiten, geregelt, weil diese für die nicht gelten. Vielmehr sei diese Anordnung gewählt worden, um deutlich zu machen, dass die Anrechnung nicht nur in den Fällen der Verweisung gelte, sondern auch für die in Satz 1 und 2 geregelten Fälle. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass die Anrechnung der Gestattungszeiten in den Fällen der Verweisung auf § 35 nicht möglich ist, wäre sie in einem anderen Absatz verortet worden.

Die Anrechnung der Gestattungszeiten sei zudem historisch bedingt. Zweck der Regelung ist es, wie aus der Entwurfsbegründung des § 26 Abs.4 AufenthG (BT-Dr 15/420, S. 80) hervorgeht, minderjährig eingereisten mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen unter den gleichen Bedingungen die Verfestigung des Aufenthalts in Form einer Niederlassungserlaubnis zu ermöglichen, wie Kindern mit einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Minderjährige, auf die § 35 AufenthG direkt anwendbar ist, haben in der Regel direkt bei Einreise in die Bundesrepublik eine Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 35 Abs.1 Satz 2 Nr.1, sodass sie gar nicht in die Situation geraten, zwar minderjährig einzureisen, jedoch erst mit Volljährigkeit eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Um eine Gleichbehandlung für Minderjährige mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu ermöglichen, sei es daher unerlässlich, die Gestattungszeiten während des Asylverfahrens anzurechnen.

Gestattungszeiten seien aus historischen und teleologischen Gesichtspunkten anzurechnen

Zuletzt seien die Gestattungszeiten auch aus teleologischen Gesichtspunkten anzurechnen. Dem Verweis aus § 26 Abs.4 Satz 4 AufenthG würde faktisch jede Bedeutung genommen, würde eine solche Anrechnung nicht stattfinden. Minderjährige mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen reisten in der Regel ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ein und erhielten diese dann stets mit zeitlicher Verzögerung, würden also immer benachteiligt werden. Der Fall des Klägers stelle insofern keine atypische Konstellation dar. Die Benachteiligung soll durch den Verweis jedoch gerade ausgeräumt werden.

Soweit die Beklagte ausführt, diese Ansicht stehe in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, treffe dies nicht zu. In dem oben genannten Urteil des BVerwG mangelte es an der Voraussetzung des § 35 Abs.1 Satz 2 Nr.1 AufenthG nicht, weil der Kläger vor Erreichen der Volljährigkeit noch nicht über eine Aufenthaltserlaubnis verfügte. Vielmehr mangelte es an der Durchgängigkeit des zumindest gestatteten Aufenthalts in der Bundesrepublik. Nach Abschluss des Asylverfahrens hielt der Kläger sich zeitweilig lediglich geduldet in Deutschland auf. Auf diesen Aspekt stützt das BVerwG seine Entscheidung. So liege es in der dem Verwaltungsgericht Hamburg vorliegenden Klage jedoch gerade nicht. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers schloss sich unmittelbar an den gestatteten Aufenthalt im Rahmen des Asylverfahrens an.

Die übrigen Voraussetzungen der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lägen vor, weshalb das Gericht die Beklagte zur Neubescheidung des Antrags nach pflichtgemäßem Ermessen verurteilt hat. Diesbezüglich führt das Gericht aus, das Ermessen sei gemäß des oben ausgeführten Zwecks der Ermächtigung auszuüben. Der Kläger „übererfülle“ die das Ermessen eröffnenden Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsnorm und insbesondere die zu seinen Gunsten sprechenden Aspekte seien zu berücksichtigen.

Quelle: VG Hamburg

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