Verwaltungsgericht Karlsruhe, 20.07.2017, Az.: A 10 K 3981/16
§ 60 Abs.1 AufenthG legt fest, dass ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
Absatz 1 findet jedoch keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann ferner abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
In diesen Fällen kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden.
Das nachstehende Urteil untersucht die Frage, ob eine asylrechtlich relevante Verfolgung in der Türkei für einen kurdischen Volksangehörigen droht, der einen Asylantrag in Deutschland gestellt hat, Jahrzehnte lang in der Bundesrepublik lebte und hier an Demonstrationen zur Unterstützung kurdischer Belange teilnahm, sich ansonsten aber nicht politisch betätigte. Dies ist laut der Entscheidung generell nicht der Fall, kann aber im Einzelfall wegen exponierter exilpolitischer Betätigung anders zu bewerten sein.
1. Hintergrund und Aufenthalt des Klägers in Deutschland
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er wurde in der Türkei geboren und lebte dort bis zu seinem elften Lebensjahr. Seine Eltern wurden nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet als politische Flüchtlinge anerkannt. 1998 zog der Kläger mit seinen Geschwistern zu seinen Eltern nach Deutschland. Mittlerweile sind seine Eltern und mindestens zwei seiner Schwestern deutsche Staatsbürger. Der Kläger erhielt 2005 eine Niederlassungserlaubnis. Trotz der Integration seiner Familie geriet der Kläger in Deutschland mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt.
2. Strafrechtliche Verurteilungen und politischer Hintergrund
Während seines Aufenthalts in Deutschland wurde der Kläger mehrfach strafrechtlich verurteilt. Zu den Verurteilungen zählen unter anderem gemeinschaftlicher versuchter Mord in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung, vorsätzliche Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung in mehreren Fällen. Die schwerwiegendste Tat war ein politisch motivierter Brandanschlag auf das Vereinsgebäude eines türkischen „Idealisten“-Vereins in Göppingen. Der Kläger und seine Mitangeklagten wollten durch den Anschlag ein politisches Zeichen für den Kampf kurdischer Gruppen gegen die türkische Regierung setzen. Das Gericht stellte fest, dass der Kläger sich mit den Zielen extremistischer kurdischer Kreise identifizierte, die den Kampf gegen die türkische Regierung unterstützen. Bei einer Hausdurchsuchung wurden 19 Exemplare einer Zeitschrift der kurdischen Jugendorganisation „Komalen Ciwan“ gefunden, die zu gewalttätigen Aktionen aufgerufen hatte. Das Gericht bewertete diese Funde als Indiz für die politischen Motive des Klägers. Zusätzlich zu diesen politisch motivierten Straftaten wurde der Kläger wegen anderer Delikte, darunter Körperverletzung und Drogenbesitz, verurteilt. Während seines Aufenthalts in der Haft begann der Kläger auch Drogen wie Heroin und Kokain zu konsumieren.
3. Ausweisung und Abschiebungsandrohung
Angesichts der schweren Straftaten des Klägers entschied das Regierungspräsidium Stuttgart im Mai 2015, ihn aus dem Bundesgebiet auszuweisen und seine Abschiebung in die Türkei anzuordnen. Das Regierungspräsidium argumentierte, dass dem Kläger in der Türkei keine staatliche Verfolgung oder Folter drohe, da die politisch motivierte Tat lange zurückliege und der Kläger selbst keine Bedenken hatte, als er einen Pass beim türkischen Konsulat beantragte. Der Kläger erhob daraufhin Klage gegen die Ausweisungsverfügung. Das Verwaltungsgericht Stuttgart wies die Klage im März 2016 ab und stellte fest, dass keine rechtlichen Hindernisse für eine Abschiebung in die Türkei bestünden. Der Kläger beantragte daraufhin die Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag im August 2016 ab und bestätigte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Der Kläger stellte daraufhin einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
4. Asylantrag und Entscheidung des BAMF
Das BAMF lehnte den Asylantrag des Klägers im August 2016 als offensichtlich unbegründet ab. Der Antrag auf subsidiären Schutz wurde ebenfalls abgelehnt. Das BAMF begründete seine Entscheidung damit, dass keine ernsthafte politische Motivation des Klägers im Zusammenhang mit seinen Straftaten erkennbar sei. Das BAMF führte aus, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei nicht zu befürchten habe, in asylrelevanter Weise verfolgt zu werden. Auch wenn der Kläger an Demonstrationen gegen die türkische Politik teilgenommen habe, sei nicht anzunehmen, dass er in der Türkei deswegen verfolgt werde. Zudem liege keine konkrete Gefahr vor, dass er aufgrund seiner kurdischen Herkunft in der Türkei staatlich verfolgt werde.
5. Verwaltungsgericht Karlsruhe: Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung
Der Kläger erhob im August 2016 Klage gegen den Bescheid des BAMF vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe und beantragte die Feststellung eines Abschiebungsverbots. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe stellte in seiner Entscheidung fest, dass die Klage zulässig, aber unbegründet sei. Das Gericht entschied, dass die Abschiebungsandrohung des BAMF rechtmäßig sei und keine Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG vorlägen. Das Gericht stützte seine Entscheidung auf umfassende Ermittlungen zur aktuellen Lage in der Türkei. Diese Ermittlungen ergaben, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei nach dem Putschversuch im Juli 2016 zwar verschlechtert habe, aber keine konkrete Gefahr für den Kläger bestehe. Zwar sei das Risiko willkürlicher Verhaftungen in der Türkei gestiegen, jedoch sei der Kläger für die türkischen Behörden eher als vorbestrafter Krimineller denn als politischer Gegner relevant. Die Verurteilung des Klägers wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung sei den türkischen Behörden bekannt, doch sei nicht anzunehmen, dass der Kläger als Unterstützer der PKK angesehen werde. Auch die kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers stelle keinen Grund für eine asylrechtlich relevante Verfolgung dar.
6. Zusammenfassung und Urteil
Das Verwaltungsgericht Karlsruhe kam zu dem Schluss, dass die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtmäßig seien. Der Kläger konnte keine ausreichenden Beweise vorlegen, die eine erhebliche Gefahr bei seiner Rückkehr in die Türkei belegen würden. Die Ausweisung und die damit verbundene Abschiebung sind rechtlich gerechtfertigt, da der Kläger eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit darstellt. Die Dauer des Einreiseverbots von neun Jahren wurde angesichts der Schwere der begangenen Straftaten und des anhaltenden Gewaltpotenzials des Klägers als angemessen bewertet. Der Kläger hat weiterhin die Möglichkeit, durch eine freiwillige Ausreise die Dauer des Einreiseverbots zu verkürzen. Angesichts der gesamten Beweislage bestätigte das Gericht die Entscheidung des BAMF und wies die Klage ab.
Quelle: Verwaltungsgericht Karlsruhe
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