Arbeitsrecht: Europarechtswidrige Kündigung eines Schwerbehinderten in der Probezeit.

ArbG Köln (18. Kammer), Urteil vom 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23

Sachverhalt:

Der Kläger, ein 1984 geborener Bauhof-Mitarbeiter einer Kommune wehrte sich gegen seine Kündigung in der Probezeit. Er war seit Januar 2023 angestellt und erhielt ein Bruttogehalt von 2.800 Euro. Der Kläger ist schwerbehindert (GdB 80) und arbeitete in mehreren Kolonnen. Im Mai zog er sich beim Fahrradfahren einen Kreuzbandriss zu und war daher arbeitsunfähig.

Daraufhin kündigte die Kommune ihn im Juni 2023 während der Probezeit nach Anhörung von Personalrat, Schwerbehindertenvertretung und Gleichstellungsbeauftragter, die keine Einwände vorlegten. Der Kläger hielt die Kündigung für treuwidrig und reichte beim Arbeitsgericht Köln Kündigungsschutzklage ein. Er betont er habe positives Feedback erhalten, räumt auf der anderen Seite aber ein, dass er aufgrund seiner Behinderung mehr Zeit und Routine benötigt, um seine Arbeitsfähigkeiten voll auszuschöpfen. Zudem kritisierte er, dass ihm keine leidensgerechte (Weiter) Beschäftigung angeboten worden sei.

Die Kommune verwies dagegen auf unzureichende Leistungen und mangelnde Teamfähigkeit. Eine Diskriminierung liege aus ihrer Sicht nicht vor, da ihr die Ursachen der Behinderung erst später bekannt gewesen seien und daher proaktives Handeln nicht geboten war.

Die Entscheidung: Die Kündigung ist rechtswidrig und die maßgebliche Norm anwendbar.

Das Arbeitsgericht beschäftigte sich in seiner Entscheidung im Wesentlichen mit zwei Fragen. Zum einen ob das Verhalten des Arbeitgebers eine Diskriminierung gemäß § 164 II S.1 SGB IX darstellt, was die Unwirksamkeit gemäß §134 BGB bedeuten würde.

Zum anderen fragte sich die Kammer, ob die zentrale (den Rechtsstreit schließlich entscheidende) Norm §164 II S.1 SGB IX überhaupt in der Probezeit eines Arbeitnehmers anwendbar ist.

Hinsichtlich der Diskriminierung gemäß §134 BGB in Verbindung mit §164 II S.1 SGB IX stellte die Kammer fest, dass die Kommune den Kläger diskriminierte aufgrund seiner (schweren) Behinderung. Das Gericht warf der Kommune vor, dass sie die aus §167 SGB IX folgenden Pflichten gegenüber dem Kläger verletzten. Dies indizierte nach Ansicht der Richter eine (widerlegbare) Vermutung, dass die Kündigung aufgrund der Behinderung des Klägers erfolgte. Diese Vermutung konnte der Arbeitgeber nicht widerlegen was bedeutet, dass eine Diskriminierung nach § 164 II S.1 SGB IX gegeben ist.

Jedoch gab es ein entscheidendes Problem für die Kammer. Nach der Rechtsprechung des BAG sind die aus § 167 SGB IX folgenden Pflichten in der Probezeit nicht anwendbar. Um so spannender die Entscheidung des Gerichts. Entgegen des BAG war die Kammer der Ansicht, dass § 167 SGB IX auch während der Probezeit Anwendung findet, womit der endgültigen Entscheidung, dass die erfolgte Kündigung rechtswidrig war, nichts mehr entgegenstand.

Begründung: Kommune schaltet Inklusionsamt nicht ein. Unionsrecht gebietet eine stetige Anwendbarkeit von §164 SGB IX.

Kern der Entscheidung ist die Frage nach einer möglichen Diskriminierung des Klägers aufgrund seiner Behinderung. Nach §167 SGB IX folgt die Pflicht des Arbeitgebers bereits frühzeitig das zuständige Inklusionsamt sowie die Schwerbehindertenvertretung zu informieren. Diese Vorschrift soll der Behebung von Schwierigkeiten dienen, die bei der Beschäftigung von Schwerbehinderten auftreten, um das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortsetzen zu können. Die Kammer stellte fest, dass die Kommune diese Pflichten verletzte. Nach Ansicht des Gerichts hätte die Kommune, als sie bemerkte, dass sich die Integrierung des Klägers als schwerlich herausstellte Präventionsmaßnahmen ergreifen müssen und – soweit niederschwelligere Maßnahmen nicht fruchteten – die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt präventiv einschalten müssen, was nicht geschehen ist. Hinzu kam, dass eine längere und behinderten gerechte Eingewöhnungsphase die Chancen auf eine erfolgreiche Integration des Klägers aus Sicht des Gerichts erhöht hätten.

Daraus folgte die bereits genannte Vermutung, dass die Kündigung aufgrund der Behinderung des Klägers erfolgte und mithin eine Diskriminierung im Sinne des § 164 II S.1 SGB IX darstellt.

Wesentlich komplizierter war jedoch das Problem der Anwendbarkeit der Norm.

Diesbezüglich entwickelte die Kammer eine ausführlich begründete Meinung entgegen der Rechtsprechung des BAG. Dies ergebe sich nach Ansicht des Gerichts zunächst aus der grammatikalischen sowie der gesetzessystematischen Auslegung die jeweils keinerlei Einschränkungen enthalten woraus sich schließen lassen könnte, dass die Anwendung auch während der Probezeit gilt. Entscheidend war aber schließlich eine europarechtsgetreue Auslegung. Aus den Art. 5 RL 2000/78 und Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a VN-BRK folgt die (generelle und abstrakte) Verpflichtung das Recht Schwerbehinderter zu wahren und einen Zugang zu Beschäftigung zu sichern. Mithin würde eine einschränkende Auslegung von §164 II S.1 SGB IX die effektive Durchsetzung von Europarecht hemmen. Dies ist nach dem (in der Rechtsprechung entwickelten und anerkannten) „Effit utile“ verboten. Folglich müsse nach Ansicht der Kammer, um eine effektive Umsetzung des Europarechts zu gewährleisten die Anwendbarkeit des §164 II S.1 SGB IX auch auf die Probezeit „ausgedehnt“ werden.

Fazit und Praxishinweise:

Ein Urteil in der das Arbeitsgericht Köln sich (mutig) entgegen der Rechtsprechung des BAG stellt, eine Kündigung für rechtswidrig erklärt und damit eine Weiterbeschäftigung des schwerbehinderten Klägers ermöglichte. Es wird zum einen gezeigt, dass Arbeitgeber in der besonderen Pflicht gegenüber ihren (schwer) Behinderten Angestellten stehen, auf ihre Weiterbeschäftigung proaktiv hinzuwirken. Auch wenn sich der Arbeitnehmer „noch“ in der Probezeit befindet. Jedoch bleibt es diesbezüglich offen, wie sich der weitere Instanzenzug gestaltet und ob diese fundierte Meinung weiterhin Bestand hat. Möglicherweise wird der Fall sogar dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, um etwaige Unionsrechtliche Ungewissheiten zu klären. Ferner wird für Behinderte und Schwerbehinderte Arbeitnehmer sehr deutlich welch umfangreicher Schutz des Arbeitsplatzes besteht und wie weit das Diskriminierungsverbot reichen kann.

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Helmer Tieben

Ich bin Helmer Tieben, LL.M. (International Tax), Rechtsanwalt und seit 2005 bei der Rechtsanwaltskammer Köln zugelassen. Ich bin auf Mietrecht, Arbeitsrecht, Migrationsrecht und Digitalrecht spezialisiert und betreue sowohl lokale als auch internationale Mandanten. Mit einem Masterabschluss der University of Melbourne und langjähriger Erfahrung in führenden Kanzleien biete ich klare und effektive Rechtslösungen.

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