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VG Berlin, Entscheidung vom 30.08.2023, Az.: 19 L 272/23 V
VG Berlin, Entscheidung vom 30.08.2023, Az.: 19 L 272/23 V
In vielen Fällen kann es notwendig sein, beim Verwaltungsgericht in Berlin einen Eilantrag zu stellen, wenn ein in Deutschland lebender Ausländer oder ein Deutscher einen Drittstaatsangehörigen nach Deutschland holen möchte.
Beispielsweise:
- Wenn man jemanden zu einer Beerdigung in Deutschland haben möchte
- Wenn man jemanden zu einer Geburt in Deutschland haben möchte
- Wenn man jemanden zu einer Hochzeit in Deutschland haben möchte
Bei sämtlichen Beispielen kann ein Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin gestellt werden. Antragsgegner ist dann die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die jeweils zuständige deutsche Botschaft bzw. das deutsche Konsulat.
In dem hier besprochenen Fall des Verwaltungsgerichts Berlin hatte eine (noch) minderjährige Tochter einen Eilantrag für ein Visum zum Familiennachzug zu ihrer in Deutschland lebenden Mutter beantragt. Dies hatte den Grund, dass die Antragstellerin kurz vor der Volljährigkeit stand und die Antragstellerin und ihre Mutter befürchteten, dass sie wegen des Eintritts der Volljährigkeit keinen Kindernachzug mehr erreichen könne.
Sachverhalt des Falles:
In Syrien wohnhafte Palästinenserin beantragte Visum zum Familiennachzug.
Die am 31. August 2005 geborene Antragstellerin, nach ihren Angaben palästinensische Volkszugehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien, hatte noch vor Eintritt der Volljährigkeit ein Visum bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rabat beantragt.
Botschaft in Rabat entscheidet nicht, daher reicht die Antragstellerin Eilantrag ein.
Der Familiennachzug sollte zu ihrer aufgrund eines Aufenthaltstitels gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – als subsidiär Schutzberechtigte im Bundesgebiet aufhältigen Mutter erfolgen. Da die Botschaft sehr lange bis zu einer Entscheidung brauchte, reichte die Antragstellerin zwischenzeitlich einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin ein.
Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin
Für die Begründetheit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung müssen ein Anordnungsgrund und auch ein Anordnungsanspruch vorliegen. Die Antragstellerin hätte das Vorliegen dieser zwei Voraussetzungen glaubhaft machen müssen.
Verwaltungsgericht Berlin sah keinen Anordnungsgrund als gegeben an.
Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn die Antragstellerin glaubhaft gemacht hätte, dass ihr Nachteile drohen, die ein Abwarten der Entscheidung im Hauptsacheverfahren (Klageverfahren) als unzumutbar erscheinen lassen.
Normalerweise darf eine einstweilige Anordnung die Hauptsache dabei grundsätzlich weder vorwegnehmen noch überschreiten. Die Erteilung eines Visums im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes stellt eine Vorwegnahme der Hauptsache dar, da hierdurch zum einen die mit dem Visum verbundene Einreiseerlaubnis endgültig vorweggenommen und der mit dem Visumsverfahren verfolgte Zweck einer effektiven vorherigen Einreisekontrolle hinfällig würde und zum anderen die Vorwegnahme der Hauptsache zu einer fortschreitenden Ausnutzung des durch das Visum eingeräumten Aufenthaltsrechts führen würde (siehe OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – OVG 2 S 51.15 – juris Rn. 3).
Der Antragstellerin würden keine schweren Nachteile drohen.
Eine solche Vorwegnahme ist wegen des Gebots effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz – GG – nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller im Falle des Abwartens auf die Hauptsachenentscheidung schwere und unzumutbare, insbesondere nicht mehr rückgängig zu machende Nachteile drohen würden und zusätzlich bereits bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Obsiegen in der Hauptsache auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – BVerwG 10 C 9.12 – juris Rn. 22 und OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. April 2017 – OVG 3 S 23.17 – juris Rn. 1).
Der Kindernachzug sei für die Antragstellerin auch nach Eintritt der Volljährigkeit möglich.
Diese (engen) Voraussetzungen würden nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Berlin nicht vorliegen. Die Antragstellerin habe jedenfalls den erforderlichen Anordnungsgrund bereits nicht glaubhaft gemacht. Dass die Antragstellerin das 18. Lebensjahr mit Ablauf des heutigen Tages vollende, lasse hinsichtlich des begehrten Visums keinen Rechtsverlust zu ihren Lasten besorgen. Der Antragstellerin könne, nachdem sie das 18. Lebensjahr vollendet haben wird, das begehrte Visum nicht allein wegen eines Überschreitens dieser Altersgrenze versagt werden. Denn es sei nicht Voraussetzung der Erteilung dieses Visums, dass die Antragstellerin zum Zeitpunkt der – behördlichen oder gerichtlichen – Entscheidung über den Visumsantrag noch minderjährig ist.
Rechtsgrundlage für das begehrte Visum zum Familiennachzug zu einem subsidiär Schutzberechtigten sei § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG. Danach könne dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 zweite Alternative besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Damit sei zwar tatbestandliche Voraussetzung der Anspruchsnorm, dass die Antragstellerin minderjährig sei. Diese Voraussetzung müsse jedoch nach gefestigter Rechtsprechung nur im Zeitpunkt der Antragstellung – und nicht mehr einer späteren Entscheidung – erfüllt sein.
Bei Ansprüchen, die an eine Altersgrenze anknüpfen, gilt die Sachlage der Antragstellung.
Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels – wie hier – grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gelte allerdings aus Gründen des materiellen Rechts für den Fall, dass ein Anspruch an eine gesetzliche Altersgrenze knüpft, eine Ausnahme von diesen allgemeinen Grundsätzen. Setze der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so müsse diese zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssten spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssten. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen könnten nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten habe, sei mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich. Diese Grundsätze seien ursprünglich zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelt worden. Sie würden jedoch – wie das Bundesverwaltungsgericht entschieden habe – auch für den hier in Betracht kommenden Kindernachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG gelten. Die Übertragung dieser Grundsätze entspreche auch der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts.
Die Antragsgegnerin habe bereits durch ihr Verhalten die Anerkennung dieser Rechtslage deutlich gemacht.
Die Antragstellerin müsse nicht einmal rein tatsächlich besorgen, dass die Antragsgegnerin die dargestellten Maßgaben der Rechtsprechung verkennen könnte und ihr im Verwaltungsverfahren das Überschreiten der Altersgrenze entgegenhalten werde. Denn die Antragsgegnerin selbst habe durch den Schriftsatz vom 29. August 2023 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts erklärt, der Antragstellerin drohe durch die bevorstehende Volljährigkeit kein Rechtsverlust. Damit habe sie erkennen lassen, dass sie diese Rechtsprechung – der sie nach dem Inhalt des Schriftsatzes ersichtlich zustimmt – bei der künftigen Entscheidung über den Visumsantrag der Antragstellerin zugrunde legen werde.
Fehle es nach alledem schon an einem Anordnungsgrund, kommt es auf das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und der weiteren Voraussetzungen einer Vorwegnahme der Hauptsache nicht mehr an.
Quelle: Verwaltungsgericht Berlin
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