Bundesarbeitsgericht, 21.11.2013, Az.: 6 AZR 979/11
Wer ist eigentlich der richtige Adressat?
Warum die Frage der Sachlegitimation in Kündigungsschutzverfahren während einer Insolvenz entscheidend ist
Es gibt juristische Fragen, die im Alltag kaum Beachtung finden – bis man plötzlich mitten hineingerät. Eine davon lautet: Gegen wen muss eine Kündigungsschutzklage eigentlich gerichtet werden, wenn der Arbeitgeber insolvent ist?
Das klingt zunächst nach einer Randnotiz aus dem Paragrafendschungel. In der Praxis kann es jedoch darüber entscheiden, ob eine Klage überhaupt Erfolg hat.
Stellen wir uns das Ganze wie ein Staffellauf vor: Der Arbeitgeber übergibt mit der Insolvenzeröffnung den Staffelstab – also die Verwaltung und Verantwortung – an den Insolvenzverwalter. Doch was passiert, wenn der Verwalter den Staffelstab wieder zurückgibt? Genau das musste das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem Fall aus dem Jahr 2013 klären.
Warum spielt die Sachlegitimation eine so große Rolle?
Im Zivil- und Arbeitsrecht reicht es nicht aus, dass ein Anspruch möglicherweise besteht. Entscheidend ist auch, wer ihn überhaupt geltend machen darf und gegen wen er sich richtet.
Zwei Begriffe stehen im Mittelpunkt:
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Aktivlegitimation: Darf der Kläger das Recht durchsetzen?
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Passivlegitimation: Wird die Klage gegen die richtige Person erhoben?
Gerade in der Insolvenz eines Unternehmens verschwimmen diese Linien schnell. Die Insolvenzordnung gibt dem Verwalter weitreichende Befugnisse – allerdings nicht immer und nicht uneingeschränkt.
Was besagt das Gesetz?
Zwei Vorschriften spielen hier zusammen:
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§ 108 Abs. 1 InsO sagt: Arbeitsverhältnisse bleiben trotz Insolvenz bestehen.
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§ 80 Abs. 1 InsO erklärt: Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens übernimmt der Insolvenzverwalter die Arbeitgeberrolle.
Klingt eindeutig, oder? Doch dann kommt § 35 Abs. 2 InsO ins Spiel: Der Verwalter kann eine selbständige Tätigkeit des Schuldners freigeben. Damit fällt die Verantwortung für diese Tätigkeit – und alles, was damit zusammenhängt – zurück an den Schuldner.
Der Fall: Ein Kündigungsschutzverfahren im Grenzbereich
Kurz der Ablauf, damit die Situation greifbarer wird:
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Ein Einzelunternehmer betreibt einen Kurierdienst.
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Er kündigt einem Fahrer fristlos – fünf Tage bevor das Insolvenzverfahren eröffnet wird.
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Nach Eröffnung übergibt der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit sofort wieder an den Unternehmer zurück.
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Der Fahrer erhebt Kündigungsschutzklage – allerdings gegen den Insolvenzverwalter.
An dieser Stelle stellt sich die zentrale Frage: Wer ist nach der Freigabe der Tätigkeit überhaupt noch für das Arbeitsverhältnis zuständig? Der Verwalter oder wieder der Unternehmer?
Die Antwort des BAG
Das Bundesarbeitsgericht entschied klar: Nicht der Insolvenzverwalter war der richtige Adressat der Klage.
Warum?
Weil die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nicht nur das operative Geschäft betrifft, sondern auch die dazugehörigen Arbeitsverhältnisse. Mit der Freigabe fällt die Arbeitgeberstellung an den ursprünglichen Unternehmer zurück – selbst dann, wenn dieser gerade mitten in der Insolvenz steckt.
Damit stand fest:
Die Klage hätte sich gegen den Unternehmer als Schuldner richten müssen, nicht gegen den Insolvenzverwalter.
Was bedeutet das für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?
Solche Fälle zeigen, wie schnell man in der Praxis den falschen Adressaten erwischen kann. Das Risiko ist besonders hoch, wenn eine selbständige Tätigkeit aus der Insolvenzmasse freigegeben wird. Wer hier falsch klagt, riskiert wertvolle Zeit – und manchmal den gesamten Prozess.
Für die Praxis lässt sich Folgendes mitnehmen:
Worauf Arbeitnehmer achten sollten
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Prüfen, ob der Insolvenzverwalter die Tätigkeit freigegeben hat.
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Wenn ja: Der Schuldner ist wieder verantwortlicher Arbeitgeber.
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Die Klage muss dann gegen den Schuldner gerichtet werden – auch wenn die Kündigung vor der Freigabe erklärt wurde.
Was Arbeitgeber bzw. Schuldner beachten müssen
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Eine Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO bedeutet Verantwortung – auch arbeitsrechtlich.
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Bereits begründete Arbeitsverhältnisse „wandern“ mit zurück.
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Aus einer Freigabe folgt kein rechtsfreier Raum; sie bedeutet eher ein Zurück-in-die-Verantwortung.
Ein Bild zum Abschluss
Man könnte sagen: Die Insolvenz verwaltet das Unternehmen wie ein Haus, das plötzlich unter staatliche Obhut gestellt wird. Gibt der Insolvenzverwalter jedoch einen Teil des Hauses – sagen wir die Werkstatt im Erdgeschoss – wieder frei, dann ist der ursprüngliche Eigentümer dort erneut Hausherr. Wer also wegen eines tropfenden Wassersprenglers klagen will, muss denjenigen ansprechen, der gerade den Schlüssel in der Hand hält.
Quelle: Bundesarbeitsgericht
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