Ausländerrecht: Stillhalteklausel des Assoziierungsabkommens Türkei – EWG ermöglicht türkischem Kind den Aufenthalt

Verwaltungsgericht Darmstadt, 18.12.2013, Az.: 5 K 310/12.DA

Am 12.09.1963 unterzeichneten die Türkei und die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein Assoziierungsabkommen, mit welchem die Türkei näher an die europäischen Staaten herangeführt werden sollte, um schlussendlich einen Beitritt der Türkei zu ermöglichen.

Dieser völkerrechtliche Vertrag wurde nachfolgend durch weitere Protokolle und Beschlüsse ergänzt.

Um die Beschäftigung und die Freizügigkeit der bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässigen türkischen Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen zu regeln, wurde das Assoziierungsabkommen am 19.09.1980 durch den Beschluss 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei ergänzt.

Eine besondere Bedeutung kommt bei diesem Beschluss der so genannten Stillhalteklausel des Artikels 13 ARB 1/80 zu. Diese Stillhalteklausel verbietet den Vertragsstaaten vor dem Hintergrund des Ziels einer Annäherung bzw. eines späteren Beitritts der Türkei zur Europäischen Union (EU) die Einführung „neuer Beschränkungen“ in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, wovon nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere auch aufenthaltsrechtliche Regelungen umfasst sind.

In der oben genannten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Darmstadt hatte dieses darüber zu entscheiden, ob das türkische Kind einer abgelehnten Asylbewerberin und eines aufenthaltsberechtigten türkischen Arbeitnehmers bis zum Erreichen des 16. Lebensjahres einen Aufenthaltstitel benötigte.

Sachverhalt des gerichtlichen Verfahrens

Die Ausländerbehörde hatte den Aufenthaltstitel für ein türkisches Kind aufgrund fehlender Unterhaltssicherung abgelehnt.

Der Vater des Kindes ist ein türkischer Arbeitnehmer und lebt seit 1994 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die Mutter reiste im Jahr 2009 ein und stellte einen Asylantrag, der jedoch abgelehnt wurde.

Das 2011 in Worms geborene Kind besitzt einen türkischen Nationalpass. Die Ausländerbehörde lehnte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, da der Lebensunterhalt des Kindes nicht durch das Einkommen des Vaters gedeckt sei.

Entscheidung des Verwaltungsgerichts Darmstadt

Das Verwaltungsgericht urteilt, dass das Kind noch nicht einmal einen Aufenthaltstitel benötige.

Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat entschieden, dass das Kind aufgrund der Rechtslage von 1990 bis zum Erreichen des 16. Lebensjahres keinen Aufenthaltstitel benötige.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hat das Kind einen Anspruch auf die Feststellung, dass es sich aufgrund des Befreiungstatbestandes des § 2 Abs. 2 DV AuslG 1990 rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Denn nach dem damals geltenden Recht benötigten türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren, die einen Nationalpass oder einen als Passersatz zugelassenen Kinderausweis besaßen, keine Aufenthaltsgenehmigung, solange ein Elternteil eine Aufenthaltsgenehmigung besaß.

Die alte Rechtslage sei auf den Fall anzuwenden, da sich das türkische Kind auf eine Regelung aus dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei berufen könne.

Nach Art. 13 ARB 1/80 dürften keine Einschränkungen hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt gemacht werden

Nach Art. 13 des Beschlusses des Assoziationsrates 1/80 dürften die Mitgliedstaaten der EU und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß seien, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.

Art. 13 ARB 1/80 verbietet damit die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen unterworfen wird, als die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung in dem betreffenden Mitgliedstaat galten. Erfasst werden durch diese Stillhalteklausel auch sämtliche Regelungen, die Aufenthaltsrechte als Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt einschränken oder ihren Erwerb erschweren.

Mit anderen Worten: Die Stillhalteklausel soll einen einmal erreichten Rechtsstandard zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei losgelöst vom Einzelfall auf (mindestens) diesem Niveau fixieren und für die Zukunft gegenüber neuen Beschränkungen veränderungsfest machen.

Das türkische Kind unterfällt der Stillhalteklausel

Das türkische Kind unterfällt nach Auffassung des Verwaltungsgerichts dieser Stillhalteklausel, da es sich aufgrund seiner Geburt rechtmäßig und damit ordnungsgemäß im Bundesgebiet aufhält.

Der mit der Geburt im Bundesgebiet einhergehende rechtmäßige Aufenthalt ist nicht nur eine vorläufige, verfahrensrechtliche Rechtsposition. Eine derartige verfahrensrechtliche Rechtsstellung wäre nicht ausreichend, um einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 zu begründen.

Durch den rechtmäßigen Aufenthalt nach der Geburt wollte der Gesetzgeber der besonderen Beziehung zwischen dem Kleinkind und der Mutter unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten Kind-Eltern-Beziehung Rechnung tragen.

Dient der rechtmäßige Aufenthalt des Kindes nicht der verfahrensrechtlichen Sicherstellung des Aufenthaltsrechts bis zu einer Entscheidung über den Aufenthaltsstatus des Kindes, sondern dem Schutz der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft, so handelt es sich um ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung zum VGH Kassel und die Sprungrevision an das BVerwG zugelassen.

Quelle: Verwaltungsgericht Darmstadt

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