1. Warum das Thema heute wichtiger ist denn je
Wer in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, steht fast zwangsläufig in engem Kontakt mit der Ausländerbehörde: Formulare, Nachweise, Fristen – und oft die Frage, welcher Aufenthaltstitel eigentlich der „richtige“ ist.
Besonders heikel wird es, wenn sich mitten im laufenden Aufenthalt etwas Grundlegendes ändert, etwa die Geburt eines deutschen Kindes. In dieser Konstellation eröffnet § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen einen besonders starken, grundrechtsnahen Aufenthaltsanspruch.
Gleichzeitig hängt von Zeitpunkten und Titelarten extrem viel ab: Niederlassungserlaubnis, Einbürgerung, Sozialleistungen, Arbeitsmarktzugang. Gerade hier stellt sich die Frage:
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Muss die Ausländerbehörde aktiv beraten?
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Darf bzw. muss ein Aufenthaltstitel rückwirkend erteilt werden?
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Und wie wirken neuere Entscheidungen von EuGH und Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) bis 2025 auf ältere Fallkonstellationen?
Der bekannte „Stuttgarter Fall“ (VG Stuttgart, Urt. v. 29.03.2012 – 11 K 4541/11) ist ein gutes Beispiel, um das Zusammenspiel von Beratungspflicht, rückwirkenden Aufenthaltstiteln und Niederlassungserlaubnis zu beleuchten – muss aber an die heutige Rechtslage und Rechtsprechung angepasst werden.
2. Kurzer Überblick: Welche Aufenthaltstitel gibt es?
Für das Verständnis des Themas reicht ein Blick auf die wichtigsten Titelarten nach dem aktuellen AufenthG:
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Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG)
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Befristeter Aufenthaltstitel.
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Wird für bestimmte Zwecke erteilt (z.B. Familie, Arbeit, Studium, humanitäre Gründe).
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Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
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Unbefristeter Titel mit sehr weitgehendem Aufenthaltsrecht.
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Regelmäßig vorausgesetzt: längerer rechtmäßiger Voraufenthalt, gesicherter Lebensunterhalt, Rentenbeiträge, Sprachkenntnisse, keine schwerwiegenden Straftaten.
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Erlaubnis zum Daueraufenthalt–EU (§ 9a AufenthG)
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Ebenfalls unbefristet, mit unionsrechtlichen Zusatzrechten (Umzug in andere EU‑Staaten).
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Besondere deklaratorische Aufenthaltstitel (Art. 20, 21 AEUV)
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Wenn jemand ein Aufenthaltsrecht unmittelbar aus dem Unionsrecht hat (z.B. als Elternteil eines Unionsbürgerkindes), kann dieses Recht durch eine nationale „Aufenthaltserlaubnis“ nur bescheinigt werden – es entsteht nicht erst durch den Titel.
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Duldung (§ 60a AufenthG)
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Kein Aufenthaltstitel, nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung.
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Wichtig für Jurist:innen: Seit dem Urteil des BVerwG vom 19.03.2013 – 1 C 12.12 ist geklärt, dass mehrere Aufenthaltstitel nebeneinander erteilt werden können, solange das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt.
Die früher verbreitete Vorstellung, es könne immer nur einen „herrschenden“ Titel geben, ist damit überholt. Das spielt in unserem Fall eine große Rolle.
3. Familiennachzug zu Deutschen: Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG
3.1. Grundstruktur des § 28 AufenthG (Stand November 2025)
§ 28 AufenthG regelt den Familiennachzug zu Deutschen und privilegiert diesen gegenüber dem Nachzug zu Ausländern. Die Aufenthaltserlaubnis ist zu erteilen an
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den Ehegatten eines Deutschen,
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das minderjährige ledige Kind eines Deutschen,
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den Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge.
Besonderheiten:
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Für das Kind und den sorgeberechtigten Elternteil wird die Aufenthaltserlaubnis abweichend von der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) erteilt.
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Auch der nicht sorgeberechtigte Elternteil kann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet tatsächlich gelebt wird (Satz 4).
Damit ist klar: Wer ein minderjähriges deutsches Kind hat und die Personensorge tatsächlich ausübt, hat regelmäßig einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, unabhängig vom eigenen Einkommen.
3.2. Verlängerung nach Volljährigkeit des Kindes
Neuere gesetzliche Ergänzung (inzwischen fest etabliert): Die einem Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge erteilte Aufenthaltserlaubnis kann auch nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes verlängert werden, solange
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das Kind mit dem Elternteil in familiärer Lebensgemeinschaft lebt und
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sich in einer Schul‑, Berufs- oder Hochschulausbildung befindet.
Diese Regelung ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Schutzes von Familie (Art. 6 GG) und der unionsrechtlichen Vorgaben zum Familienleben (Art. 7 EU‑Grundrechtecharta, Art. 8 EMRK).
4. Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG
§ 28 Abs. 2 AufenthG regelt die Niederlassungserlaubnis für Familienangehörige von Deutschen. Danach ist dem Ausländer regelmäßig eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn:
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er drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist,
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die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen im Bundesgebiet fortbesteht,
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kein Ausweisungsinteresse besteht und
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er über ausreichende Deutschkenntnisse (in der Praxis B1) verfügt.
§ 9 Abs. 2 Satz 2–5 AufenthG gilt entsprechend (Anrechnung von Zeiten, Erleichterungen bei Rentenbeiträgen etc.).
Die Obergerichte haben diese Regelung weiter präzisiert:
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Die Dreijahresfrist bezieht sich auf eine familiäre Aufenthaltserlaubnis, die vom deutschen Familienangehörigen abgeleitet ist, also in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG. Eine vorherige Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen (z.B. Ehegattennachzug zu Unionsbürgern, humanitäre Titel) genügt dafür nicht.
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Eine bereits vorhandene Niederlassungserlaubnis (z.B. nach § 26 Abs. 3 AufenthG für Flüchtlinge) schließt den zusätzlichen Erwerb einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 nicht aus. Mehrere unbefristete Titel nebeneinander sind zulässig (Bestätigung der Rechtsprechung zu 1 C 12.12).
In der Praxis prüft die Ausländerbehörde im Rahmen der Niederlassungserlaubnis auch heute noch regelmäßig die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Von dieser Regelerteilungsvoraussetzung kann nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, wenn besondere Umstände – insbesondere grundrechtlich geschützte Familienbindungen – dies erfordern.
5. Rückwirkende Erteilung von Aufenthaltstiteln – Grundlinien 2025
Der „Trick“ im Stuttgarter Fall war die Idee, den familienbezogenen Aufenthaltstitel rückwirkend zu erteilen, damit die Dreijahresfrist des § 28 Abs. 2 früher erfüllt ist.
Die Rechtsprechung des BVerwG lässt eine rückwirkende Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich zu, verlangt aber ein schutzwürdiges Interesse:
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Ein Ausländer kann einen Aufenthaltstitel für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum beanspruchen, wenn es für seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich ist, ab welchem Zeitpunkt er diesen Titel besitzt (z.B. für eine Niederlassungserlaubnis, bestimmte Erwerbstätigkeiten, Einbürgerung).
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Ein solches schutzwürdiges Interesse wird insbesondere dann bejaht, wenn der Betroffene rechtzeitig einen Antrag gestellt hat und die verspätete Entscheidung oder falsche Titelerteilung allein im Verantwortungsbereich der Behörde liegt.
Wichtig ist aber auch die zeitliche Grenze: Mehrere Obergerichte – u.a. der Hessische Verwaltungsgerichtshof – haben klargestellt, dass die rückwirkende Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich nur für Zeiträume nach Antragstellung in Betracht kommt. Für davor liegende Zeiten kommen nur eng begrenzte Ausnahmen in Betracht (z.B. Wiederaufgreifen bei besonders gravierendem Behördenfehler).
Das BVerwG hat diese Linie in neueren Entscheidungen zur rückwirkenden Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln (z.B. § 25b AufenthG) präzisiert: Bei einer rückwirkenden Erteilung ist auf den betreffenden Erteilungszeitraum abzustellen, d.h. die materiellen Voraussetzungen müssen in diesem Zeitraum vorgelegen haben, nicht erst im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Für die Praxis bedeutet das:
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Ja, eine rückwirkende Aufenthaltserlaubnis kann die Tür zur Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 öffnen.
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Nein, sie ist kein Automatismus, sondern setzt eine saubere Argumentation zum schutzwürdigen Interesse und zu den Voraussetzungen im Erteilungszeitraum voraus.
6. Beratungspflicht der Ausländerbehörde – wie weit geht sie?
Die allgemeinen Beratungspflichten der Verwaltung finden sich in § 25 Verwaltungsverfahrensgesetz (bzw. den landesrechtlichen Parallelvorschriften, z.B. § 25 LVwVfG Baden‑Württemberg). Danach soll die Behörde die Beteiligten über ihre Rechte und Pflichten aufklären und auf die Stellung oder Ergänzung von Anträgen hinwirken, wenn erkennbar ist, dass dies aus Unkenntnis unterbleibt.
Übertragen auf das Aufenthaltsrecht bedeutet das vereinfacht:
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Die Ausländerbehörde muss nicht jeden denkbaren Aufenthaltstitel „durchberaten“.
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Aber sie darf nicht sehenden Auges hinnehmen, dass ein offenkundig naheliegender, wesentlich günstigerer Titel „liegen bleibt“, obwohl alle Informationen auf dem Tisch liegen (z.B. Geburt eines deutschen Kindes, laufender Familienaufenthalt, absehbare Niederlassungserlaubnis).
Die Rechtsprechung ist hier nicht völlig einheitlich:
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Einige Gerichte betonen, dass es keine allgemeine Pflicht gibt, jeden Ausländer über alle theoretisch möglichen Titel zu belehren.
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Andere – wie im Stuttgarter Fall – leiten aus § 25 VwVfG und Art. 6 GG eine weitgehende Hinweis- und Beratungspflicht her, wenn die Behörde erkennt, dass der Betroffene bei richtiger Information einen wesentlich besseren Status (z.B. Niederlassungserlaubnis) hätte erlangen können.
Realistisch betrachtet hat sich bis 2025 eine gewisse Mittelposition herausgebildet:
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Keine „Rundumberatung“ für alle Fälle.
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Aber eine konkrete Hinweis- und Beratungspflicht in Konstellationen, in denen
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die maßgeblichen Tatsachen der Behörde bekannt sind (z.B. Geburt eines deutschen Kindes, Meldedaten, Familienstand) und
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klar erkennbar ist, dass ein bestimmter Aufenthaltstitel (oder dessen rückwirkende Erteilung) für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung entscheidend ist (Niederlassung, Einbürgerung, Vermeidung von Kettenduldungen usw.).
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7. Der Stuttgarter Fall – aktualisiert betrachtet
7.1. Kurz zum Sachverhalt
Der Kläger, bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger (Jahrgang 1971), lebte seit 2006 rechtmäßig in Deutschland – zunächst mit einer Aufenthaltserlaubnis als Werkvertragsarbeitnehmer (§ 18 AufenthG a.F.), später mit einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu seiner kroatischen Ehefrau (§ 30 AufenthG).
2008 wurde in Stuttgart ein gemeinsames Kind geboren, das aufgrund der damaligen Regelung des § 4 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt. Die Ausländerbehörde wurde darüber informiert, erteilte dem Kläger aber erst im Mai 2009 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (Elternteil eines minderjährigen Deutschen).
2010 beantragte der Kläger eine Niederlassungserlaubnis. Die Behörde lehnte ab mit der Begründung, die Dreijahresfrist des § 28 Abs. 2 sei noch nicht erfüllt und der Lebensunterhalt nicht hinreichend nachgewiesen.
Im anschließenden Verfahren beantragte der Kläger u.a. die rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 ab einem früheren Zeitpunkt sowie die Niederlassungserlaubnis.
7.2. Kernaussagen des VG Stuttgart (2012)
Das Verwaltungsgericht Stuttgart sah:
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Die Ausländerbehörde hätte nach Bekanntwerden der Geburt des deutschen Kindes von sich aus auf die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 hinweisen und ggf. deren rückwirkende Erteilung prüfen müssen.
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Ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung lag vor, weil davon die Möglichkeit der Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 abhing.
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Die Behörde war verpflichtet, das abgeschlossene Verfahren im Wege des Wiederaufgreifens im weiteren Sinne (§ 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG) erneut zu prüfen.
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Aufgrund der nachgereichten Unterlagen sah das Gericht schließlich auch den Lebensunterhalt als hinreichend gesichert an und verpflichtete die Behörde, die Niederlassungserlaubnis zu erteilen.
Aus damaliger Sicht war vor allem die Passage bedeutsam, wonach die Behörde verhindern müsse, dass der Ausländer „zwischen den Stühlen“ verschiedener Aufenthaltstitel stehe.
7.3. Was ist an dieser Entscheidung 2025 noch tragfähig – und was nicht?
Trotz ihres Alters ist das Urteil in mehreren Punkten weiterhin relevant:
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Wiederaufgreifen im weiteren Sinne
Die vom VG Stuttgart herangezogene Konstruktion – Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG – ist durch die spätere Rechtsprechung des BVerwG bestätigt und weiter ausgebaut worden. -
Schutzwürdiges Interesse an der Rückwirkung
Die Argumentation, dass ein schutzwürdiges Interesse besteht, wenn nur so eine Niederlassungserlaubnis erlangt werden kann, fügt sich nahtlos in die heutige BVerwG‑Rechtsprechung zur rückwirkenden Erteilung von Aufenthaltstiteln ein. -
Beratungspflicht
Die vom Gericht angenommenen Beratungspflichten der Ausländerbehörde stehen zwar heute in einem Spannungsfeld zu Entscheidungen, die eine allgemeine Beratungspflicht eher zurückhaltend sehen. In Konstellationen wie dieser – Geburt eines deutschen Kindes, klar absehbare Aufenthaltsverfestigung – wird aber auch heute vielfach eine Hinweispflicht bejaht.
Überholt bzw. zu korrigieren ist insbesondere:
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Die Annahme, es dürfe nicht „zwei Aufenthaltstitel für denselben Zeitraum“ geben. Spätestens seit BVerwG 1 C 12.12 (19.03.2013) ist klar, dass mehrere Aufenthaltstitel nebeneinander möglich und in bestimmten Konstellationen sogar geboten sind (z.B. zusätzliche Niederlassungserlaubnis trotz schon bestehendem Daueraufenthalt‑EU).
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Neuere Obergerichtsbarkeit betont, dass eine Rückwirkung vor Antragstellung nur ausnahmsweise (z.B. bei gravierenden Behördenfehlern und Wiederaufgreifen) in Betracht kommt. Das VG Stuttgart ging – aus heutiger Sicht – eher großzügig mit der Rückwirkung um; die Linie der Obergerichte ist inzwischen restriktiver.
Für die Beratungspraxis bleibt aber der zentrale Gedanke bestehen: Wenn die Behörde einen offenkundig günstigeren familiären Aufenthaltstitel „übersieht“, kann dies später über Wiederaufgreifen und rückwirkende Erteilung korrigiert werden – mit der Folge, dass eine Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 eröffnet wird.
8. Aktuelle Rechtsprechung 2024/2025: EuGH & BVerwG schärfen die Rechte der Eltern deutscher Kinder
8.1. EuGH, Urteil vom 8. Mai 2025 – C‑130/24
In einem vom VG Düsseldorf vorgelegten Verfahren ging es um eine drittstaatsangehörige Mutter eines deutschen Kindes, die sich auf Art. 20 AEUV berief. Zentral waren u.a. folgende Fragen:Entsteht das abgeleitete Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV automatisch oder erst mit der nationalen Entscheidung?
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Ab wann besteht dieses Recht – ab Antragstellung oder ab Geburt / Entstehung des Abhängigkeitsverhältnisses?
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Darf die Anerkennung des Rechts davon abhängig gemacht werden, dass die betroffene Person das Gebiet der EU verlässt, um nachträglich ein Visum zu beantragen?
Der EuGH hat klargestellt:
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Das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils ergibt sich unmittelbar aus Art. 20 AEUV; der nationale Aufenthaltstitel ist nur deklaratorisch.
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Das Recht entsteht nicht erst mit Antragstellung, sondern ab dem Zeitpunkt, in dem das Abhängigkeitsverhältnis zum Unionsbürgerkind entsteht – in der Praxis häufig ab dessen Geburt.
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Eine nationale Regelung, die die Anerkennung dieses Rechts davon abhängig macht, dass der Elternteil zur Visumbeantragung das Unionsgebiet verlässt, ist mit Art. 20 AEUV nicht vereinbar, wenn dadurch das Kind faktisch gezwungen würde, der Mutter ins Ausland zu folgen.
Für das Zusammenspiel mit § 28 AufenthG bedeutet das:
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Selbst wenn eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 (noch) nicht erteilt wurde, kann ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht kraft Art. 20 AEUV bzw. Art. 21 AEUV bestehen.
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Dieses Recht ist von den Behörden nur zu bescheinigen, nicht zu „verleihen“.
In der Praxis kann diese Rechtsprechung z.B. herangezogen werden, wenn die Ausländerbehörde zögert, nach Geburt eines deutschen Kindes eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen oder auf einem Visumverfahren „im Ausland“ besteht.
8.2. BVerwG, Urteil vom 25. September 2025 – 1 C 17.24 (rückwirkende Aufenthaltserlaubnis)
In einem Verfahren zur rückwirkenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG (nachhaltige Integration) hat das BVerwG 2025 zentrale Grundsätze für rückwirkende Aufenthaltstitel betont:
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Bei der Entscheidung über eine rückwirkende Erteilung ist auf den Erteilungszeitraum abzustellen, nicht auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Die materiellen Voraussetzungen (z.B. nachhaltige Integration, Lebensunterhalt, Straffreiheit) müssen für den rückwirkend erfassten Zeitraum vorgelegen haben.
Auch wenn die Entscheidung einen humanitären Titel betrifft, sind die Aussagen verallgemeinerungsfähig und für Fälle relevant, in denen die rückwirkende Erteilung eines Titels Voraussetzung für eine Niederlassungserlaubnis ist – wie bei § 28 Abs. 2.
9. Praktische Hinweise 2025 – worauf Betroffene achten sollten
9.1. Wenn ein deutsches Kind geboren wird
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Die Geburt eines deutschen Kindes sollte unverzüglich der Ausländerbehörde gemeldet werden (am besten schriftlich, nachweisbar, mit Geburtsurkunde).
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Es sollte ausdrücklich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG beantragt werden.
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Wenn bereits ein anderer Titel besteht (z.B. § 30, § 18), spricht nach heutiger Rechtslage nichts dagegen, dass beide Titel nebeneinander existieren – im Gegenteil: Dies kann später für Niederlassungserlaubnis oder Einbürgerung vorteilhaft sein.
9.2. Wenn die Behörde „den falschen Titel“ erteilt hat
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Wird z.B. zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG (Ehegattennachzug) fortgeschrieben, obwohl bereits ein deutsches Kind besteht, sollte zeitnah eine Korrektur beantragt werden.
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Ist die Situation kompliziert (lange Zeit nur „falscher“ Titel, inzwischen Antrag auf Niederlassungserlaubnis), kann geprüft werden:
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Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Erst- oder Folgeerteilung,
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rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1,
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Geltendmachung eines schutzwürdigen Interesses (Niederlassungserlaubnis, Einbürgerungsfristen, Sozialversicherungsrecht).
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Hier lohnt sich regelmäßig eine anwaltliche Prüfung, weil die Argumentation fein austariert werden muss.
9.3. Beratungspflicht der Behörde nutzen – aber nicht darauf vertrauen
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Die Ausländerbehörde hat Hinweis- und Beratungspflichten, wenn sie erkennt, dass ein bestimmter Titel für die Betroffenen erheblich günstiger ist.
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Trotzdem gilt: Wer nur „fragt, was möglich ist“, ohne selbst konkrete Anträge zu stellen, läuft Gefahr, dass Gerichte später sagen: Die Behörde musste nicht jede Variante proaktiv aufzählen.
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Sicherer ist es, konkrete Anträge zu formulieren („Ich beantrage die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ab … und im Anschluss eine Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG.“).
9.4. Zusammenspiel mit Unionsrecht
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In Grenzfällen, in denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 (noch) verweigert wird, sollte immer geprüft werden, ob Art. 20 oder Art. 21 AEUV ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermitteln.
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Nationale Behörden und Gerichte sind an die Rechtsprechung des EuGH gebunden; ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht besteht dann kraft Gesetzes und kann nicht von einem vorherigen Visum oder einer formellen Bescheinigung abhängig gemacht werden.
10. Fazit
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Die Geburt eines deutschen Kindes ist aus aufenthaltsrechtlicher Sicht ein Wendepunkt: Sie eröffnet regelmäßig einen Anspruch auf eine privilegierte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG – und damit perspektivisch auf eine Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG.
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Wird diese privilegierte Rechtsposition von der Behörde zu spät oder falsch erkannt, kommt – unter engen Voraussetzungen – eine rückwirkende Erteilung des richtigen Titels in Betracht, insbesondere wenn nur so eine Niederlassungserlaubnis oder ein anderer langfristiger Status erreicht werden kann.
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Die Rechtsprechung bis 2025 (VG Stuttgart, BVerwG, EuGH) zeigt:
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Die Ausländerbehörden sind nicht machtlos, sondern können abgeschlossene Verfahren zugunsten der Betroffenen wiederaufgreifen.
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Betroffene haben einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.
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Unionsrechtliche Aufenthaltsrechte (Art. 20, 21 AEUV) bestehen unabhängig davon, ob die Behörde rechtzeitig reagiert – sie sind nur zu bescheinigen.
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Wichtiger Hinweis:
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